W. Reichel – Poem “Letter to Dionysis” (German)
δὲν εἶναι εὔκολο νὰ μιλᾶ κανεὶς σήμερα
μὲ βεβαιότητα οὔτε γιὰ ἀλκυόνες
οὔτε γιὰ ἀηδόνια
ὅταν κατοικεῖ σὲ σπίτι
ποὺ δὲν θυσιάστηκε πετεινὸς στὰ θεμέλια του
κι οὔτε ἔχει κοιμηθεῖ σὲ στρῶμα
μὲ σταυροὺς ραμμένους στὶς τέσσερεις γωνιές του
ὅπου πέφταν τὰ νομίσματα
χρυσά καὶ ἀργυρὰ
κι οἱ σπόροι ἀπὸ βαμβάκι καὶ σησάμι
ἢ ἔχει χυθεῖ μαζὶ μὲ τοὺς ἄλλους στοὺς δρόμους
ὢς βαθιὰ μέσα στὴ νύχτα
στὰ λαμπρὰ φωτισμένα σπίτια
μὲ τοὺς Λάζαρους ντυμένους μὲ κίτρινα λουλούδια
καὶ γύρω ἀπ’ τὰ γεμάτα ἄνθη στρώματά τους
στέφανα καὶ δημητριακὰ
πουλιὰ ἑρπετὰ πέταλα
ἀλεύρι μάραθο κεριὰ καὶ μέλι
πιὸ μαλακὰ ἀπ’ τὸν ὕπνο.
Ἔτσι Διονύση,
μέσα στὸ γενικὸ θαλάσσωμα
τῆς ἀνακρίβειας τῶν αἰσθημάτων,
πίνοντας καφέ,
Παρασκευὴ πρωί
δὲν ἔχω παρὰ νὰ σοῦ πὼ
πὼς σὲ πεθύμησα πολύ.
es ist heutzutage nicht mehr so leicht
mit Gewissheit über Eisvögel oder gar
Nachtigallen zu reden
wenn man in einem Hause wohnt
auf dessen Grundstein keines Hahnes Opferblut floss
noch je auf einem Lager schlief
mit an seinen vier Ecken angenähten Kreuzen
worauf die Münzen fielen
aus Gold und Silber
und Baumwollsamen und Sesam
noch je auf die Straßen strömten
bis tief in die Nacht mit den anderen
zu den hellerleuchteten Häusern
Lazarus voran, gehüllt in gelbe Blumen
und rund um sein blütenstrotzendes Lager
Kränze und Getreide,
Vögel, Schlangen, Blätter,
Mehl, Fenchel, Kerzen und Honig
weicher als Schlaf.
Und so, Dionyssis,
mitten in der „allgemeinen Verwirrung
der Ungenauigkeit der Gefühle”,
will ich dir beim Kaffeetrinken
am Freitagmorgen
lediglich sagen
dass du mir ungemein fehlst.
Niki Marangou: Biographische Notiz
Niki Marangou wurde 1948 in Limassol auf Zypern geboren. Sie studierte von 1965-
70 in West-Berlin Soziologie und hat zehn Jahre lang als Bühnenautorin für das zypriotische Staatstheater gearbeitet. Seit 1980 leitet sie den Buchladen Kochlias in Nikosia. Sie hat Prosabände, Gedichtbände und Kindermärchen veröffentlicht und zwei staatliche Preise für ihr literarisches Werk bekommen. 1998 gewann sie in Alexandria den Kavafis-Preis für Lyrik. Ihr malerisches Werk ist in sieben Ausstellungen vorgestellt worden. Sie lebt in Nikosia und hat eine Tochter, die ebenfalls Malerin ist.
Sie selbst sagt über sich und ihr dichterisches Werk:
‘Meine Mutter kam aus Makedonien im Norden Griechenlands, mein Vater aus Famagusta. Dies gab mir einen weiten Blickwinkel über die griechische Welt, da ich an ihrem östlichsten Punkt aufwuchs. Unsere Generation hatte das Glück, Zeuge extremer Ereignisse zu werden: Hochtechnologie und meine webende Großmutter, Zigeuner mit Tanzbären und Computer.
Sechs Jahre in Berlin haben mich zur Genüge verwirrt. Ich brauchte die trägen Sommermittage in Nikosia, um mich daran zu erinnern, wer ich war. Ich hatte verschiedene Jobs, habe blinde Kinder Töpfern gelehrt, habe für das Theater gearbeitet und führe einen Buchladen.
Der Kernpunkt meines Lebens war immer die Leidenschaft für die Sprache, für die griechische Sprache in all ihren Formen, modern, alt, byzantinisch. Ich liebe es, mit der Sprache zu spielen. Darum habe ich einen Buchladen eröffnet; so konnte ich alle Bücher haben, die ich wollte. Darum versinke ich in Büchern, ich gehe wieder zur Universität, suche nach Wörtern, suche nach neuen Spielen. Ich gebrauche Wörter wie Farben um Bilder zu malen. Einige davon kommen von sehr weit her.’1
1 http://www.transcript-review.org/de/issue/transcript-5-/niki-marangou [27.12.2010]
I. Einleitung
Das Gedicht „Brief an Dionysis“ der griechisch-zypriotischen Dichterin Niki Marangou2 berührt den Leser unmittelbar durch die elementaren Bilder, die ihm dort entgegen leuchten: Der am Flussufer pfeilschnell vorbei schwirrende Eisvogel. Das Glitzern seines bunten Gefieders in der Sonne. Der weithin hörbare Gesang der Nachtigall in der Abenddämmerung. Tiefrotes Blut, das aus der mit einem blanken Messer durchschnittenen Kehle eines geopferten weißen Hahnes auf grauen Marmor tropft. Auf die Bettdecke genähte schwarze/rote/goldene? Kreuze. Blinkende Münzen
aus Gold und Silber, dazwischen dunkle Baumwollsamen in ihrem weißen Wattebett
und hellbraune Sesamkörner. Helle Fenster, die in die dunkle Nacht hinein leuchten. Eine begeistert durch die Straßen strömende Menge. Allen voran Lazarus, nicht einer, gleich mehrere3, von den Toten auferweckt, nicht mehr von Leichentüchern eingehüllt, sondern jetzt in gelbe Blumen. Das Totenbett, gerade noch Ort der Trauer und der Tränen, jetzt – wie ein Altar – überbordend von Blüten und umgeben von Kränzen, Vögeln, Schlangen, Kerzen … Und all das „weicher als Schlaf“.
2 Niki Marangou, Divan, Athen 2005, S. 34f (griech.); “Sprache im technischen Zeitalter“ Nr. 148 April
1999 (deutsch; Übersetzung: Ingrid Dombros); DIE ZEIT Nr. 24/10. Juni 1999, S. 54 (deutsch); Niki Marangou, Selections from the „Divan“, hg. und übersetzt von Stephanos Stephanides, Nicosia 2001 (engl.).
3 Der Plural entspricht der griechischen Originalfassung: „μὲ τοὺς Λάζαρους“, was in der deutschen
Übersetzung im Singular als „Lazarus“ wiedergegeben wird. Ich richte mich im Folgenden grundsätzlich nach der veröffentlichten deutschen Übersetzung und gebe jeweils an, wann und wie ich
davon abweiche. Das Gedicht liegt auch in einer englischen Übersetzung vor (siehe Anm. 2), die sich
sprachlich näher am Originaltext bewegt als die deutsche Übersetzung, und die deshalb als
Ergänzung hier wiedergegeben wird:
LETTER TO DIONYSIS
Nothing we have said is certain
concerning either halcyons or nightingales
(Lucian)
You see, Dionysis
nowadays it is not easy for us to speak of halcyons nor of nightingales
as we have not lived in houses on whose foundations cocks were sacrificed
nor have we slept on mattresses
with crosses at their four corners sewn where coins fell
of silver and of gold
and seeds of cotton and of sesame nor have we poured into the streets deep into the night
and into houses brightly lit
with Lazaruses in yellow flowers adorned their blossom-filled beds beset with garlands and grains
birds lizards petals
flour fennel candles and honey softer than sleep
That’s why, Dionysis,
in the “general turmoil
of uncertainty of feelings”
drinking coffee on a Friday morning, I just have to tell you
that I’ve missed you very much
Und dann, wie um die Stärke dieser Bilder noch einmal zu unterstreichen: Szenenwechsel hin in einen grauen Alltag. Ein banaler Freitagmorgen, vielleicht in der Küche einer ebenso banalen Etagenwohnung, eine Tasse Kaffe und ein kurzer, eher beiläufig gesprochener Satz.
Es ist nicht leicht, sich aus dem Bann dieser Bilder zu lösen. Sie verbinden sich mit Bildern in der eigenen Seele, mit eigenen Erfahrungen und lange verschütteten Erinnerungen. Man möchte bei ihnen verweilen wie in einem schönen Gemälde – und es dabei belassen.
Aber dann fällt der Blick auf ein kurzes Wort: „δὲν“ (= nicht), das gleich zweimal an zentralen Stellen des Gedichtes vorkommt (Zeile 7 und 11), und das vielleicht zunächst gar nicht wahrgenommen wurde, und durch das all diese Bilder schlagartig im Dunkel versinken – und das in einem rätselhaften Zusammenhang mit der offenbar abhanden gekommenen Gewissheit bezüglich Eisvögeln und Nachtigallen, wie das ebenfalls unscheinbare Wort „ὅταν“ (= wenn) nahe legt. Aber welcher anderen Gewissheit als die Gewissheit ihrer bloßen Existenz bedürfen die Farben des Eisvogels und der Gesang der Nachtigall?
Diese und andere Fragen sind Grund genug, den „Brief an Dionysis“ noch einmal zu lesen, und in gewisser Hinsicht – nein, nicht genauer und gründlicher. Gründlichkeit und Genauigkeit waren schon beim ersten Lesen dabei; jetzt aber anders, mit etwas mehr analytischer Distanz. Da dies zu beträchtlichen und auf den ersten Blick vielleicht irritierenden Ausweitungen des bisher skizzierten Verstehenshorizontes führen wird, beginnt meine Interpretation des Gedichtes mit einer „hermeneutischen Vorverständigung“, die vor allem den Leser überreden soll, auf dem von mir eingeschlagenen Weg wenigstens ein Stück weit mit zu gehen, was ohne Risiko geschehen kann, denn ein Umkehren ist jederzeit möglich. Ich hoffe aber, dass nach diesen hermeneutischen Präliminarien die Neugier gewachsen ist, sich mit heute selten gewordenen Metamorphosen zu befassen: Ein Mensch wird zu einem Gott und – wie wir als unsichtbare Zuhörer bei einem mehr oder weniger philosophischen Dialog am Strande von Phaleron bei Athen erfahren – eine trauernde Witwe zu einem Eisvogel und eine verzweifelte Mutter zu einer Nachtigall. Danach kann das Gedicht als Ganzes in den Blick kommen. Da dies aber keine ganz leichte Angelegenheit wird, verbinden wir damit eine Exkursion nach Alexandria, um dort um die Jahre 275/270 v.Chr. am Adonisfest teilzunehmen. Nach einem anregenden Gedankenaustausch mit Friedrich Hölderlin steht dann eine Begegnung mit dem angloamerikanischen Dichter T.S. Eliot am Ende unserer Zeitreise durch einige Epochen europäischer Geistesgeschichte. Durch all das sind dann die Voraussetzungen dafür geschaffen, sich erneut mit Metamorphosen zu beschäftigen, die diesmal aber bis in die Gegenwart und sogar in die Zukunft reichen, und in jenem Zwischenreich zwischen realer und virtueller Welt angesiedelt sind, in dem die Religion seit jeher ihren Platz hat.
II. Hermeneutische Vorverständigung
Der „Brief an Dionysis“ scheint nicht mehr in die aktuelle religiöse Landschaft zu passen. Denn von verlorenen und dabei unzweifelhaft religiösen Erfahrungen, wie sie hier mitgeteilt werden, ist heute weniger die Rede als von einer Renaissance der Religion. Man spricht von der „Wiederkehr der Götter“4 und beschwört die „christlich- jüdische Leitkultur“ des Abendlandes5. Die Gültigkeit des Säkularisierungs- paradigmas, das von einer schwindenden Bedeutung von Religion in der Moderne (zumindest in der Öffentlichkeit) ausging, und das in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Diskussion über Religion stark beeinflusst hat, wird immer mehr in Frage gestellt6.
Der „Brief an Dionysis“ vollzieht diese Wende nicht mit. Denn die letzten Zeilen und besonders der letzte, an Dionysis7 gerichtete Satz des Gedichtes („dass du mir ungemein fehlst“8) relativieren den Verlust religiöser Erfahrungen – denn davon ist im Gedicht durchweg die Rede – nicht etwa, indem zum Beispiel Möglichkeiten neuer,
„alternativer“ Erfahrungen angedeutet werden, wie sie heute reichlich zur Verfügung zu stehen scheinen, sondern stellen diesen Verlust auf Dauer, machen ihn so zu einem wirklichen und nachhaltigen Verlust und setzen sich ihm dadurch erst richtig aus, so dass die Frage nach dem, was wir da eigentlich verloren haben – oder nie besessen hatten – und warum, unvermeidlich wird.
Mich interessiert der Moment, in dem dieser Satz gesprochen wird – gesprochen offenbar in dem Bewusstsein, dass das, was vorher mit so schönen Worten geschildert – man möchte fast sagen: ausgemalt – worden ist, und was vielleicht einmal Wirklichkeit war, oder aber immer nur ein Traum gewesen ist, dass das – ein für alle Mal? – dahin ist.
Mich interessiert, wie es möglich ist, diese beiden gegenläufigen Erfahrungen in einem Gedicht unterzubringen und so einander anzunähern, dass eines nicht ohne das andere gesagt werden kann. Nicht nur über Eisvögel und Nachtigallen kann heute „nicht mehr so leicht“ mit Gewissheit gesprochen werden. Über religiöse Erfahrungen zu sprechen ist heute nur mehr im Modus des Verlustes und der Trauer über diesen Verlust möglich, und das auch nur in verhaltener Form („will ich dir … lediglich sagen“) ohne große Worte.
Damit schlägt Niki Marangou einen ganz anderen Ton an, als man ihn etwa von der populären Religionskritik kennt, die ebenfalls vom Verlust religiöser Erfahrungen spricht, dies aber mit der Verheißung verbindet, dass erst durch diesen Verlust Gewinne möglich sind: an Freiheit, Menschlichkeit, Kreativität usw., und gegenüber diesen Gewinnen der Verlust dann nicht mehr zu Buche schlägt – wenngleich die verheißenen Gewinne bisher auf sich haben warten lassen.
4 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004
5 So z.B. der Limburger Bischof Tebartz-van Elst im Oktober 2010 (FAZ 20.10.2010)
6 Benjamin Barber, Ein Krieg „jeder gegen jeden“: Terror und die Politik der Angst (Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 18, 2002); Jürgen Habermas, Die Dialaktik der Säkularisierung (2007) (http://www.eurozine.com/articles/2008-04-15-habermas-de.html [28.12.2010])
7 Wer sich hinter „Dionysis“ verbirgt bzw. verbergen könnte, wird im folgenden Abschnitt erörtert werden.
8 πὼς σὲ πεθύμησα πολύ = (wörtl.) ich habe dich sehr vermisst (Aorist). Grammatisch ist aber auch die präsentische Form „dass du mir ungemein fehlst“ möglich.
Niki Marangou betreibt keine Religionskritik. Ihr Gedicht beschreibt vielmehr in nur leicht verschlüsselter Form die Folgen einer Entwicklung, die für die Religion viel einschneidendere Konsequenzen hat, als es die Religionskritik je haben kann, die in ihrer direkten, konfrontativen Auseinandersetzung mit der Religion bisher nur mäßig erfolgreich war.
Seit der Aufklärung nämlich haben das westliche Christentum und die dieses Christentum repräsentierenden Kirchen – und hier besonders der Protestantismus – in dem Maße, in dem sie sich den Ideen der Moderne geöffnet haben, nach und nach und mitunter auch direkt als Ziel angestrebt, ihren Charakter als Religion verloren – was Religion ist, führt uns Niki Marangou in ihrem Gedicht besser vor Augen, als jede Theorie es vermag – und sich mehr oder weniger zu „Vereinigungen für gute Lebensführung“9 entwickelt. Das ist keine besonders neue Erkenntnis. Innerkirchliche konservative Kritiker10 haben dies immer schon behauptet – und sie haben Recht damit. Aber dies nur im Hinblick auf die von ihnen gestellte Diagnose, nicht aber, wenn sie daraus als Allheilmittel die Rückkehr zur traditionellen Lehre und zu traditionellen Vorstellungen ableiten und anmahnen.
Obwohl von vielen begangen, ist dieser Weg nach rückwärts heute nicht mehr möglich. Denn diese eben skizzierte neuzeitliche Entwicklung hat sich nicht willkürlich vollzogen, und ist auch nicht von verkappten Gegnern des Christentums betrieben worden. Das Gegenteil ist der Fall. An der neuzeitlichen Transformation des Christentums haben sich ihre Agenten in dem Bewusstsein beteiligt, den christlichen Glauben mit dem Wissen und den Ideen der Moderne zu versöhnen, um sich nicht im Abseits wiederfinden zu müssen, damit immer aber auch von einem der Kant’schen Imperative geleitet: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Insofern war und ist diese Entwicklung alternativlos. Zwar kann man das Wissen der Moderne ignorieren oder es dadurch gleichsam domestizieren, dass man sich nur Teile davon aneignet und Denkprozesse nicht konsequent bis ihrem Ende verfolgt – was oft genug geschieht. Irgendwann aber wird das Christentum dann auf der Seite der Barbarei landen11 und zu einer Sekte verkümmern.
Es ist deshalb unvermeidlich und richtig gewesen, sich den Ideen und Erkenntnissen der Moderne auszusetzen – allerdings um einen hohen Preis, dessen Zahlung lange aufgeschoben werden konnte, der jetzt aber fällig ist, und der in nichts anderem als in dem Ende des Christentums als Religion (nicht: das Ende des Christentums als Lebensform) und den daraus folgenden Konsequenzen besteht (VII. „Wenn die Ethnologen kommen …“).
Der letzte Satz des Gedichtes ist Ausdruck genau dieser Situation. Dieser Satz lässt aber auch die Ahnung aufkommen, dass eine der wesentlichen Voraussetzungen
9 Anders, als dies aus binnenkirchlicher Sicht in der Regel verstanden wird, ist diese Bezeichnung nicht abwertend gemeint, etwa im Sinne einer vor allem Hedonismus und Wellness propagierenden und betreibenden Organisation. „Gut“ zielt vielmehr auf Nächstenliebe, Gerechtigkeit usw. (VIII. Ethik und Ästhetik)
10 A. Tholuck, Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner. Oder: Die wahre Weihe des Zweiflers, Gotha 1820; August Friedr. Chr. Vilmar, Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik. Bekenntnis und Abwehr, 1856
11 Insofern ist Schleiermachers 1829 besorgt geäußerte und seitdem immer wieder zitierte Frage immer noch aktuell: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen: das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ (Hermann Mulert [Hg.], Schleiermachers Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke, Gießen 1908, S. 37)
dieses Transformationsprozesses, nämlich die Annahme, dass dieser Prozess ohne Substanzverluste möglich sei, das Christentum also bei allen Veränderungen im Wesentlichen mit sich identisch bleibe – dass diese Annahme falsch ist. Auch das ist immer wieder von konservativen Kritikern behauptet worden, und auch hier haben sie weitgehend Recht. Aber auch hier gibt es keinen Weg zurück. Dann aber wäre zu bedenken, ob – und gegebenenfalls wie – ein Christentum, das keine Religion mehr sein kann, dennoch das oder einen Teil dessen zurück gewinnen kann, was es mit seinem Ende als Religion verloren hat (VIII. „Einige Gaben …“).
Die Aufnahme des Religionsbegriffes und seine Anwendung auf das Christentum geschieht durchaus in dem Bewusstsein der dadurch aufgeworfenen Fragen. Der hier verwendete Religionsbegriff ist vergleichsweise eng definiert, weil nur so eine sinnvolle Verwendung dieses Begriffes möglich ist – im Gegensatz zu seiner heute verbreiteten völligen Überdehnung, die fast alles und jedes einschließt. Dadurch wird zwar nichts mehr angemessen beschrieben und erklärt, aber immerhin – und das ist vielleicht der Grund für diese Überdehnung – auch da noch Religion vorgespiegelt, wo gar keine mehr ist (VII. „Wenn die Ethnologen kommen …“).
Der Titel dieses Aufsatzes – „Metamorphosen“ – ist dem Dialog „Halkyon oder über
Metamorphosen“ von Lukian von Samosata entnommen, aus dem auch die dem
„Brief an Dionysos“ vorangestellten zwei Zeilen stammen. „Metamorphosen“ steht darüber hinaus aber auch für die Transformationsprozesse des neuzeitlichen Christentums, die zu den Problemen geführt haben, die in dieser Einleitung kaum angedeutet werden konnten, und denen anhand der Anregungen, die sich aus dem Gedicht ergeben, und meines Versuchs, es zu verstehen, genauer nachgegangen werden soll.
III. Von Dionysis zu Dionysos
Sowohl die Überschrift des Gedichtes als auch seine letzten sieben Zeilen scheinen im Widerspruch zu der Interpretationsrichtung zu stehen, wie sie in den hermeneutischen Vorüberlegungen skizziert worden ist. Denn allein schon der Name des Adressaten, „Dionysis“, ein verbreiteter (neu)griechischer Personenname, der wiederum aus dem antiken christlichen Personennamen Dionysios abgeleitet ist, legt zunächst die Annahme nahe, dass es sich beim „Brief an Dionysis“ um die Erinnerung(en) einer von ihrem Freund, Geliebten oder Ehemann verlassenen Frau handeln könnte, also um eine vergleichsweise private Angelegenheit. Oder aber auch – und das ist zunächst nicht weniger privat – um die schmerzvolle Realisierung des Verlustes von oder gar des völligen Mangels an Erfahrungen, wie sie in Zeile 10 bis 25 geschildert werden, und die wir hier als religiöse Erfahrungen bezeichnen wollen.
Ausgehend von dieser Möglichkeit wäre dann weiter zu überlegen, ob bzw. in welchem Ausmaß in die von Zeile 10 bis 25 mitgeteilten Erfahrungen konkrete, individuelle Erfahrungen oder aber auch Hoffnungen und Sehnsüchte der Dichterin eingeflossen sind. Oder aber, ob es sich dabei nicht eher um die Imagination einer Szenerie oder gar die Schilderung eines Traumes handeln könnte, deren einzelne Bilder dann symbolisch für das stehen könnten, was alles mit dem Weggang von
„Dionysis“ verloren gegangen ist, oder wie sich erst nach diesem Verlust zeigt, nie da war.
Gewichtige Gründe sprechen aber dagegen, die Interpretation des Gedichtes in dieser Perspektive bzw. ausschließlich in dieser Perspektive vorzunehmen. Allein das dem Gedicht voran gestellte und anschließend sogleich in abgewandelter Form wieder aufgenommene Zitat aus dem pseudosokratischen Dialog „Halkyon oder über Metamorphosen“ von Lukian von Samosata erweitert – wie wir sehen werden – wegen seiner dort Sokrates in den Mund gelegten erkenntnistheoretischen Überlegungen den Interpretationsrahmen deutlich. Und auch die Intensität, mit der in den Zeilen 10 bis 25 die – verlorenen oder nie vorhandenen – religiösen Erfahrungen geschildert werden, so wie die Einbeziehung der biblischen Person des – von den Toten auferweckten – Lazarus12, all das deutet darauf hin, dass die Dichterin hier nicht (nur) ihre individuellen Erfahrungen mitteilt, und sei es auch nur in symbolischer
Form, sondern dass uns hier eine ganze, aber „σήμερα“ (heute – Z. 7) für immer versunkenen Welt vor Augen gemalt wird. Und bei näherem Hinsehen erweisen sich auch die Zeilen 26 bis 32 als nicht ganz so „privat“, wie sie zunächst wirken, und zwar sowohl wegen des in diese Zeilen eingearbeiteten Zitates aus einem Gedicht von T.S. Eliot, als auch wegen der nur scheinbar beiläufigen Bemerkung, dass der „Brief an Dionysis“ an einem Freitag(morgen) geschrieben wird.
Diese Beobachtungen geben mir die Freiheit, die aber ohnehin jedem Interpreten eines guten Gedichtes nicht nur zusteht, sondern durch das Gedicht selbst eingeräumt wird, einen Interpretationshorizont zu wählen, in dem die Intentionen des Gedichtes (und seiner Verfasserin) sowie die dem zu Grunde liegenden Beobachtungen und Erfahrungen mit meinen eigenen Beobachtungen, Erfahrungen und Intentionen verschmelzen; eine – zugegeben – etwas gewagte hermeneutische
12 Joh.-Evgl., Kap. 11,43-44, wobei – wie schon oben bemerkt – das Gedicht von Lazarus in der Pluralform spricht.
Operation, weil in deren Verlauf der bisherige Verstehenshorizont in eine neue, vielleicht auch die Verfasserin des Gedichtes überraschende Richtung hin erweitert werden kann13.
Deshalb wird in den folgenden Überlegungen die soeben diskutierte Möglichkeit, dass das Gedicht die Trennung von einem Freund, Geliebten oder Ehemann und die damit verbundenen Verlusterfahrungen reflektiere, zwar nicht ausgeschlossen, aber vorerst nicht mehr weiter verfolgt. Eine solche Erfahrung mag ganz am Anfang den Anstoß für das Gedicht gegeben haben, aber außer den angeführten Hinweisen gibt es dafür keine weiteren, so dass dazu ohnehin nichts mehr zu sagen wäre.
Wir tun aber gut daran, diese auf die Person der Dichterin bezogene Perspektive nicht völlig zu vergessen, denn sie wird uns später und in einem anderen Zusammenhang noch einmal beschäftigen. Dann wird es um das spezifische Problem des Dichters, jedes Dichters gehen, für das, was er beschreiben und sagen will, die angemessene Sprache zu finden, und in diesem Zusammenhang auch noch einmal um Religion (VI. „μέσα στὸ γενικὸ θαλάσσωμα τῆς ἀνακρίβειας τῶν αἰσθημάτων“).
Als Konsequenz aus dem Gesagten steht sich eine erste Metamorphose an. Weitere
werden uns noch begegnen. Durch diese Metamorphose verwandelt sich der uns unbekannte und von nun an nicht mehr interessierende Mensch Dionysis in den uns sehr wohl bekannten und außerordentlich interessanten antiken Gott Dionysos, der hier allerdings gleichsam maskiert, in der Gestalt des Menschen Dionysis auftritt. Aber genau das ist bereits eines der hervorstechenden Merkmale Dionysos’, der auch als „Gott der Verwandlung und der Ekstase“ bezeichnet und oft mit einer Maske vor seinem Gesicht abgebildet wird14. Und ekstatische Züge in den Zeilen 17 bis 25 zu entdecken, fällt nicht besonders schwer. Zudem gehören Honig, Mehl und vor allem Schlangen zu Dionysos’ Attributen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die biblische, also christliche Person des von den Toten auferweckten Lazarus, der im Gedicht gleichsam vervielfacht auftritt. Aber von den Toten auferweckt zu werden, ist kein christliches Monopol, sondern Dionysos selbst widerfahren, und deshalb dann auch im Mysterienkult des Dionysos beheimatet und dort ebenso zentral wie im Christentum. Überhaupt bestehen, wie schon immer bemerkt worden ist, zwischen Dionysos und Christus enge Bezüge, die vielleicht den Hintergrund für die Vermischung christlicher und paganer Elemente in den Zeilen 10 bis 25 bilden, und die übrigens in Paphos/Zypern an einem römischen Mosaik im sog. „Haus des Aion“ (ca. Mitte des 4. Jhd.s n.Chr.) anschaulich zu studieren sind: Hier sieht man nämlich Dionysos als „göttliches Kind“ auf dem Schoß des Hermes, den Kopf von einem Nimbus umgeben, in der gleichen Pose wie wir sie von Jesus auf dem Schoß der Maria kennen (rückwärtiges Umschlagblatt).
15 Dennoch wirft die Erwähnung eindeutig christlicher Spezifika in einem an den – wie wir ab jetzt voraussetzen – paganen Gott Dionysos gerichteten „Brief“ Fragen auf, die noch genauer geklärt werden müssen.
13 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1986, S. 270ff
14 „Dionysos. Verwandlung und Ekstase“ ist der Titel einer Ausstellung im Pergamonmuseum Berlin vom 5.11.2008 bis zum 31.1.2010. Vgl. dazu auch den Katalog „Dionysos – Verwandlung und Ekstase – Pergamonmuseum“, hg. von R. Schlesier und A. Scharmaier, Berlin 2008/09
15 Vgl. dazu auch Marion Giebel, Dionysos, der Gott der Verwandlung. Die Bakchen des Euripides, in: Symbolon, Bd. 17, Frankfurt/M. 2010
IV. Über Eisvögel und Nachtigallen
Das dem Gedicht voran gestellte Zitat stammt aus dem Dialog „Der Eisvogel oder die Verwandlung(en)“16, zugeschrieben Lukian von Samosata (ca. 120 – 180 n. Chr.). Lukian gilt als mehr oder weniger rationalistisch denkender Satiriker, Spötter und Religionskritiker. Obgleich wahrscheinlich nicht der Verfasser, ist es sinnvoll, zunächst die von ihm und anderen Autoren seiner Zeit generell gegenüber der Religion eingenommene Haltung zu skizzieren, um vor diesem Horizont die im Dialog
„Der Eisvogel …“ deutlich werdende Position schärfer zu konturieren.
In (Pseudo-)Lukians Abhandlung „Von den Opfern“17 heißt es zum Beispiel am
Anfang:
„Man müsste in der Tat in einer sehr niedergeschlagenen Stimmung sein, wenn man das Benehmen des einfältigen Volkes bei seinen Opfern, Festen und feierlichen Tempelbesuchen betrachten, und die Vorstellungen, die sich die Leute von den Göttern machen, die Bitten und Gelübde, die sie gen Himmel schicken, mit anhören könnte, ohne die Ungereimtheit aller dieser Dinge höchst lächerlich zu finden.“
18 Nachdem er dafür zahlreiche Beispiele gegeben hat, zieht er am Schluss folgendes
Resümee: „Doch es wäre vergeblich, über all diese Torheiten, an welchen der Volksglaube hängt, sich in ernste Rügen oder Zurechtweisungen einzulassen; man kann hier bloß die Rolle des Heraclit, oder die des Democrit spielen, und sich entweder, wie der Letztere, über die Narrheit der Leute lustig machen, oder ihren Unverstand beweinen.“
19 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass es sich bei (Pseudo-)Lukians Äußerungen nicht um eine radikale Religionskritik handelt, sondern um eine Kritik, die im Namen der „richtigen“, also philosophischen Verehrung der Götter vorgetragen wird:
„Vor allen Dingen aber wird man versucht, die Frage bei sich aufzuwerfen, ob man die Menschen, die so unedel und niedrig von der Gottheit denken, um sich einzubilden, sie bedürfe der Menschen, und freue sich, von ihnen geschmeichelt zu werden, und zürne, wenn man sie vernachlässige, ob man solche Leute für gottesfürchtig und fromm, oder nicht vielmehr für Feinde der Götter halten soll, die in einem unglückseligen Wahne befangen sind.“
20 Den Kontext der beiden dem Gedicht voran gestellten Zeilen bildet ein Dialog zwischen Sokrates und einem gewissen Chairephon, der zu den Freunden und Bewunderern Sokrates gehörte. Obwohl es sich bei diesen beiden um historische Personen handelt21, ist der Dialog selbst von (Pseudo-)Lukian frei erfunden.
Beide stehen offenbar (wie man aus dem letzten Absatz schließen kann) am Ufer des Athener Seehafens Phaleron und hören den wehmütig-schönen Gesang eines
16 „Ἀλκυὼν ἤ περί Μεταμορφqώσεων“, in: The Loeb Classical Library, Lucian VIII (= LCL 432), London 2001, S. 307-317; deutsche Übersetzung in: Lucian’s Werke, übersetzt von Friedr. Pauly, Bd.
1, Stuttgart 1827, S. 97-102.
17 „Περί Θυςίων“, in: The Loeb Classical Library, Lucian …; deutsche Übersetzung in: Lucian’s Werke, übersetzt von Friedr. Pauly, Bd. 1, Stuttgart 1827, S. 330-350.
18 Ebd. S. 330
19 Ebd. S. 340
20 End. S. 330f
21 Zu Chairephon: Der Kleine Pauly, Bd.1, München 1979, Sp. 1121
Vogels. Auf Chairephons Frage, was das sei, erklärt Sokrates, dass es sich um den Gesang des Eisvogels (Ἀλκυὼν = Halkyon) handelt, und erzählt dazu auch gleich die passende Geschichte:
„Halkyone, eine Tochter des Aeolos und Enkelin des Hellenos, hatte ihren jugendlichen Gemahl Keyx aus Trachis, den reizenden Sohn des schönen Morgensterns Heosphorus, in der Ferne durch den Tod verloren, und, von Trauer und Sehnsucht getrieben, die ganze Erde durchirrt, ohne ihn finden zu können, bis der Götter Wille sie in einen Vogel verwandelte, in welcher Gestalt sie nun über alle Meere fliegt, um ihn zu suchen.“22
„Aber sage mir doch, um der Götter willen, Sokrates“, so fragt daraufhin Chairephon,
„hat man denn solche Sagen, dergleichen du vorhin eine erzähltest, für wahr zu halten, dass jemals aus Vögeln Weiber und aus Weibern Vögel geworden seien? Ich sollte meinen, dies wäre das Unmöglichste.“
Überraschender Weise antwortet Sokrates auf diese Frage ganz anders, als man es bei Kenntnis der in der Schrift „Von den Opfern“ und damals auch sonst anderen Autoren vorgetragenen beißenden Kritik an solchen Geschichten erwarten würde23, er benutzt nämlich das in der Religion, aber dann auch in der Theologie weit verbreitete „argumentum a fortiore“, und zwar so, dass er auf zahlreiche erstaunliche Erscheinungen vor allem in der Natur hinweist, die für den Menschen nicht erklärbar seien, denn „wir urteilen ja bloß nach menschlichem Vermögen, welches nur zu oft weder sehen, noch begreifen, noch glauben kann.“
22 In Ovids „Metamorphosen“ ist diese Geschichte – natürlich – auch aufgegriffen worden, wird dort aber etwas versöhnlicher erzählt, da Halkyone am Ende wieder mit ihrem Gatten vereint wird und beide in Eisvögel verwandelt werden. Insofern gibt Lukian die Geschichte nur in verkürzter, aber für seine Zwecke ausreichender Form wieder.
„Keyx war’s. “Er ist’s!” ruft jammernd sie aus und zerreißt sich Antlitz, Haare zugleich und Gewand, und die zitternden Hände Streckt sie nach Keyx aus und spricht: “So, teuerster Gatte, So, Unglücklicher, kehrst du zu mir!” Von Händen gebildet
Liegt an den Wogen ein Damm, der dem Zorn ankommender Meerflut
Einhalt tut und den Druck der Gewässer ermüdet im voraus. Dort springt jene hinauf, und – seltsam, dass sie es konnte – Fliegend zerteilt sie die Luft, und mit eben erwachsenen Schwingen
Streicht an den Wellen sie hin als mitleidswürdiger Vogel.
Während im Fluge sie schwebt, lässt klagende Töne dem Schmerzlaut
Ähnlich vernehmen ihr Mund, der klappert mit spitzigem Schnabel. Wie sie berührte darauf den stummen und blutlosen Leichnam
Und an den teueren Leib anschmiegte das neue Gefieder, Küsste sie ihn umsonst mit dem kalten gehärteten Schnabel.
Ob das jener gefühlt, ob sich von der Welle Bewegung
Scheinbar hob sein Gesicht, nicht wusst’ es die Menge; doch Keyx
Hatt’ es gefühlt. Mitleid rührt endlich die Götter, und beide
Wandeln in Vögel sich um. Die gleiches erleidende Liebe
Blieb auch da, wie zuvor, und gelöst ward auch bei den Vögeln Nimmer der ehliche Bund. Sie paaren sich, werden zu Eltern, Und in der frostigen Zeit sitzt sieben beruhigte Tage
Brütend Alkyone da in dem Nest, das schwimmt auf den Wogen. Dann ist sicher die Fahrt; dann lässt die gehüteten Winde
Aiolos nicht aus der Haft und gewährt Meerstille den Enkeln.“ (Metamorphosen 11,725-748).
23 Diese Beobachtung ist übrigens einer der Gründe für die Annahme, dieser Dialog sei nicht von
Lukian, sondern von einem Sokratiker verfasst worden.
Und daraus folgert er dann:
„Da nun die Kräfte der Unsterblichen so groß sind, wir kleine Sterbliche dagegen das Große so wenig erfassen wie das Kleine zu durchschauen vermögen, ja sogar das Meiste von dem, was um uns her vorgeht, nicht zu erklären wissen, so können wir nicht mit Gewissheit sprechen, weder über Eisvögel noch über Nachtigallen.“24 25
Man kann sagen, dass Sokrates hier die (mögliche) Metamorphose von Halkyone in das große Meer der allgemeinen Unwissenheit einfließen lässt: Wir wissen so wenig, also können wir auch hier nichts Genaues sagen. Diese Ungewissheit wird nun aber nicht als Argument für die Unmöglichkeit einer Metamorphose verwendet, sondern soll umgekehrt deren Möglichkeit stützen: Wir können nicht mit Gewissheit sagen, dass Eisvögel und Nachtigallen keine verwandelten Menschen sind, so dass am Ende der Argumentation aus Unwahrscheinlichkeit fast so etwas wie Wahrscheinlichkeit geworden ist.26
Ohne Unvergleichbares vergleichen zu wollen, erinnert die hier Sokrates in den Mund gelegte Argumentation an das spätere Diktum von Kant, er habe das Wissen aufheben müssen, um dem Glauben Platz zu machen, nur dass Lukian dieses Ziel mit erheblich geringerem Aufwand und deshalb auch – zumindest für uns Heutige – mit erheblich geringerer Überzeugungskraft zu erreichen versucht.
Betrachtet man dies aus einem etwas abstrakteren Blickwinkel, dann wird hier ein bestimmtes Konzept von „Wirklichkeit“ entworfen, das den Rahmen dafür bildet, was man für „möglich“ und was man für „unmöglich“ halten kann – unabhängig davon, ob diese Dinge „tatsächlich“ geschehen. Denn nicht die alltäglichen sowie die den Alltag übersteigenden Erfahrungen konstituieren gleichsam induktiv ein Konzept von
„Wirklichkeit“, sondern dieses Konzept definiert das, was im Alltag und darüber hinaus geschehen und was nicht geschehen kann.
Damit ist aber noch nicht alles gesagt. Denn der weitere Fortgang des Dialogs zeigt, dass es letztlich nicht oder nicht in erster Linie um die Möglichkeit oder
24 Οὐκ ἂν ἔχοιμεν εἰπεῖν βεβαίως οὔτ΄ ἀλκυόνων περί οὔτ΄ ἀηδόνων. Niki Marangou zitiert diese altgriechische Version. Die neugriechische Paraphrase lautet: Βεβαίως ουδέν ασφαλές δυνάμεθα να είπωμεν, ούτε περί των αλκυόνων, ούτε περί των αηδόνων.
25 Auch die Nachtigall (ἡ ἀηδών) ist nämlich eine verwandelte Frau, die allerdings nicht um ihren verstorbenen Gatten, sondern um ihr Kind klagt, wie aus Homer (Odyss. III. 518. ff.; Überstezung: H.
Voss)zu entnehmen ist:
„Wie wenn Pandareus Tochter, die Nachtigall, falbes Gefieders, Holden Gesang anhebt in des Frühlings junger Erneuung;
Unter dem dichten Gespross umlaubender Bäume sich setzend Wendet sie oft und ergießt tonreich die melodische Stimme, Klagend ihr trautes Kind, den Itylos, welchen aus Thorheit
Einst mit dem Erz sie erschlug, den Sohn des Königes Zethos.“
Vgl. Dazu auch Der Kleine Pauly, Bd. 3, München 1979, Sp. 1555f
26 Das hier vom (pseudo)lukianischen Sokrates vorgetragene gemäßigte Argument über die
Möglichkeit des Unwahrscheinlichen erinnert in gewisser Hinsicht an das, was der platonische Sokrates im „Phaidon“ kurz vor seinem Tode sagt. Nach einer längeren Beschreibung der Orte im Hades, an denen die Seele nach dem Tode „wohnt“, sagt er: „Dass sich nun dies alles gerade so
verhalte, wie ich es auseinandergesetzt, das ziemt wohl einem vernünftigen Mann nicht zu behaupten:
dass es jedoch entweder diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muss mit unsern Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und lohne auch, es darauf zu wagen, dass man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muss mit solcherlei gleichsam sich selbst besprechen. Darum spinne ich auch schon so lange an der Erzählung (διὸ δὴ ἔγωγε καὶ πάλαι μηκύνω τὸν μῦθον)“ (Phaidon 114d; Übersetzung: Friedr. Schleiermacher)
Unmöglichkeit einer Metamorphose der Halkyone gegangen ist, sondern darum, aus der Geschichte eine moralische Nutzanwendung zu ziehen, so wie dies auch schon bei Ovid erkennbar ist, hier aber nun explizit ausgesprochen wird:
Sokrates [indem er den Eisvogel direkt anspricht]: Die Sage aber von dir und deinen Liedern, melodische Sängerin der Trauer, will ich so, wie ich sie von den Vätern vernommen, meinen Kindern wieder erzählen. Deiner frommen und zärtlichen Gattenliebe will ich oft gegen meine beiden Gattinnen, Xanthippe und Myrto, preisend gedenken, und ihnen sagen, welcher Ehre dich die Götter dafür gewürdigt haben. Wirst du nicht auch ein Gleiches tun, Chairephon?
Chairephon: Wie billig, Sokrates. In der Tat liegt in dieser Sage eine Ermunterung für
Beide, für den Mann und das Weib, in Beziehung auf ihr gegenseitiges Verhältnis.
Auch wenn als Konsequenz (noch) nicht zwingend, wird durch die hier vorgenommene moralische Deutung der Geschichte die erzählte Begebenheit im Grunde austauschbar und letztlich beliebig. Etwas zugespitzt und sicher auch etwas vereinfacht könnte man sagen, dass dieses Verfahren der Textauslegung der Beginn einer „Entmythologisierung“ und auch Rationalisierung ist, durch die in einem schleichenden und bis heute andauernden Prozess der Mythos in Mythologie, die Religion in Theologie und letztlich alles in Anthropologie verwandelt wird. Dieser Prozess – den man bedauern mag oder nicht, dem man sich verweigern kann oder nicht – ist allerdings, wie am Anfang bereits bemerkt, unaufhaltsam und alternativlos.
V. „Brief an Dionysis“
Es ist aber noch ein ganz anderer Umgang mit diesen und anderen Geschichten möglich, als jene Entmythologisierung und Rationalisierung, die sich im Dialog über Eisvogel und Nachtigall bereits anbahnen, indem man nämlich sich durch das, was diese Geschichten erzählen, in ihren Bann ziehen lässt, und nicht durch das, was dies eventuell bedeuten könnte. Wenn eine trauernde Witwe „wirklich“ in einen Eisvogel verwandelt wird, dann kann das nur das Werk eines Gottes gewesen sein, und dann begegnet mir in jedem Eisvogel, den ich sehe, keine Moral, sondern der Gott. Und dann ist jede solcher Begegnungen nichts anderes als eine Epiphanie, eine Erscheinung des Gottes. Und bei solchen Epiphanien fragt man nicht nach deren Möglichkeit oder Unmöglichkeit und auch nicht nach deren Bedeutung. Oder besser: Weil eine Epiphanie immer für sich selbst steht, kommt die Frage nach ihrer Bedeutung gar nicht erst auf. Dann aber ist nicht der moralische Diskurs über ein „gutes Leben“ die angemessene Antwort, sondern – ja, was eigentlich?
„… auf die Straßen strömte(n)
bis tief in die Nacht mit den anderen zu den hellerleuchteten Häusern Lazarusse voran, gehüllt in gelbe Blumen und rund um ihre blütenstrotzenden Lager Kränze und Getreide,
Vögel, Schlangen, Blätter,
Mehl, Fenchel, Kerzen und Honig weicher als Schlaf.“
Also: Mit Lazarus durch die Straßen! Ihm nach! Auferweckung pur. Und dies nicht nur einmal, sondern mehrfach, immer. Und: Keine Fragen, kein Gerede. Stattdessen: Wo schon Blumen sind, noch mehr Blumen. Wo schon Licht ist, noch mehr Kerzen. Überfluss. Verschwendung. Und alles „weicher als Schlaf“.
Niki Marangous expressive Schilderung dessen, was eine Epiphanie ist und was sie bei denen, denen sie widerfährt, auslöst, verdient eine angemessene Ergänzung, zu der ihre abschließende Charakterisierung „weicher als Schlaf“ (Zeile 25) Anlass gibt. Dabei handelt es sich nämlich ursprünglich wohl um eine Art Werbeslogan der Teppichweber und/oder der Teppichhändler aus den antiken Städten Milet und Samos, der allerdings in einem Zusammenhang überliefert ist, der ebenfalls deutlich theophanische Züge trägt.
In seiner 15. Idylle „Die Syrakuserinnen am Adonisfest“ – einem kleinen, relativ anspruchslosen Dramolett – des hellenistischen Dichters Theokrit (3. Jhd. v.Chr.) beschreibt dieser die Teilnahme von zwei Frauen am Adonisfest in Alexandria zur Zeit des Königs Ptolemaios II. Philadelphos und seiner Gattin Arsinoe. Bei diesem im Frühjahr gefeierten Fest, das immerhin bis ins 5. Jhd. n.Chr. nachweisbar ist27, geht
es im Kern ebenfalls um Tod und Auferstehung, in diesem Falle des Adonis. Im Zentrum des Dramoletts steht das Loblied einer Sängerin, die ziemlich genau das beschreibt, was die beiden Frauen gerade als Zuschauerinnen des festlichen Umzuges sehen:
„Herrscherin! die du Golgos erkorst und Idalions Haine, Auch des Eryx Gebirg’, goldspielende du, Aphrodita! Sage, wie kam dir Adonis von Acherons ewigen Fluten
Nach zwölf Monden zurück, im Geleit’ sanftwandelnder Horen?
27 Reinhold Merkelbach, Iris Regina – Zeus Serapis, Berlin 2001, § 85, S.49
Langsam gehn die Horen vor anderen seligen Göttern;
Aber sie kommen mit Gaben auch stets und von allen ersehnet. Kypris, Dionas Kind, du erhobst, so meldet die Sage,
In der Unsterblichen Kreis, die sterblich war, Berenika, Hold Ambrosiasaft in die Brust der Königin träufelnd. Dir zum Dank, vielnamige, tempelgefeierte Göttin,
Ehrt Berenikas Tochter, an Liebreiz Helena ähnlich, Ehrt Arsinoa heut mit allerlei Gaben Adonis.
Neben ihm liegt anmutig, was hoch auf dem Baume gereifet; Neben ihm auch Lustgärtchen, umhegt von silbergeflocht’nen
Körben, auch goldene Krüglein, gefüllt mit syrischen Düften; Auch des Gebackenen viel, was Frau’n in den Formen bereitet, Mischend das weißeste Mehl mit mancherlei Würze der Blumen, Was sie mit lieblichem Öle getränkt und der Süße des Honigs.
Alles ist hier, das Geflügel der Luft und die Tiere der Erde.
Grünende Laubgewölbe, vom zartesten Dille beschattet, Bauete man: und oben als Kinderchen fliegen Eroten,
Gleichwie der Nachtigall Brut, von üppigen Bäumen umdunkelt, Flattert umher von Zweig zu Zweige, die Fittige prüfend.
Sehet das Ebenholz! und das Gold! und den reizenden Schenken, Herrlich aus Elfenbein, vom Adler entführt zu Kronion!
Auf den purpurnen Teppichen hier (noch sanfter wie Schlummer
Würde Milet sie nennen und wer da wohnet in Samos)28
Ist ein Lager bereitet, zugleich dem schönen Adonis. Hier ruht Kypris, und dort mit rosigen Armen Adonis.
Achtzehn Jahre nur zählt ihr Geliebtester, oder auch neunzehn; Kaum schon sticht sein Kuß, noch säumet die Lippen ihm Goldhaar, Jetzo mag sich Kypris erfreu’n des schönen Gemahles.
Morgen tragen wir ihn, mit der tauenden Frühe versammelt, Alle hinaus in die Flut, die herauf schäumt an die Gestade:
Und mit fliegendem Haare, den Schoß bis tief auf die Knöchel,
Offen die Brust, so stimmen wir hell den Feiergesang an: Holder Adonis, du nah’st bald uns, bald Acherons Ufern, Wie kein anderer Halbgott, sagen sie. Nicht Agamemnon Traf dies Los, noch Aias, der schrecklich zürnende Heros, Hektor auch nicht, von Hekabes zwanzig Söhnen der erste, Nicht Patroklos, noch Pyrrhos, der wiederkehrte von Troja, Nicht die alten Lapithen und nicht die Deukalionen,
Noch die Pelasger, die grauen, in Pelops’ Insel und Argos. Schenk’ uns Heil, o Adonis, und bring’ ein fröhliches Neujahr!“
Freundlich kamst du, Adonis, o komm’, wenn du kehrest, auch freundlich!“
Wenn ein Gott oder – wie hier – ein Halbgott aus dem Reich der Toten ins Reich der
Lebenden zurückkehrt, dann kann es keinen Mangel, sondern nur Überfluss geben:
„Alles ist hier.“29
28 Πορφύρεοι δὲ τάπητες ἄνω (“μαλακώτεροι ὕπνω”, ἁ Μίλατος ἐρεῖ, χὠ τὰν Σαμίαν καταβόσκων), ἔστρωται κλίνα τῷ Ἀδώνιδι τῷ καλῷ.
Der von Niki Marangou verwendete Formulierung πιο μαλακά απʹ τον ύπνο ist der neugriechischen
Paraphrase des antiken Textes entnommen.
29 Eine Hilfe zur Visualisierung dieser Szenerie mag das jetzt im Paul Getty Museum in Los Angeles befindliche Bild „Primavera“ des viktorianischen Malers Lawrence Alma-Tadema sein (Anhang).
Die bereits erwähnte Anspruchslosigkeit dieser 15. Idylle verschafft uns aber auch einen Zugang zu den Gedanken und Gefühlen jener Volksschichten, die die Dinge realistischer sehen, als es Philosophen, Theologen und andere Geistesarbeiter zu tun pflegen, und bewahrt uns dadurch vor vorschnellen und unbegründeten Idealisierungen vergangener Zeiten. So lassen zum Beispiel die Äußerungen einer der beiden Frauen, Gorgo, unmittelbar vor und nach dem Vortrag der Sängerin erkennen, dass für sie das ganze Fest eher ein großes Spektakel ist, als dass es sie innerlich berührt – wobei man natürlich auch mit dieser Diagnose vorsichtig sein muss:
„Still, Praxinoa! Gleich nun fängt sie das Lied von Adonis
An, die Sängerin dort, der Argeierin kundige Tochter,
Die den Trauergesang auf Sperchis so trefflich gesungen.
Sicherlich macht die’s fein. Schon richtet sie schmachtend ihr Köpfchen.“
Und gleich nach dem Gesang:
„Unvergleichlich! dies Weib, Praxinoa! Was sie nicht alles
Weiß, das glückliche Weib! und wie süß der Göttlichen Stimme! Doch es ist Zeit, daß ich geh’; Diokleidas erwartet das Essen.
Bös ist er immer, und hungert ihn erst, dann bleib’ ihm vom Leibe!
– Freue dich, lieber Adonis, und kehre zu Freudigen wieder!“
Aber eine echte Epiphanie hält auch das aus, denn sie verwandelt – oder sollte man sagen: verzaubert (?) – die Welt und die Menschen so nachhaltig, dass solche Äußerungen und Haltungen nur akzidentelle Bedeutung haben können.
Man lebt tatsächlich in einer anderen Welt,
wenn man in einem Hause wohnt
auf dessen Grundstein eines Hahnes Opferblut floss und auf einem Lager schlief
mit an seinen vier Ecken angenähten Kreuzen worauf die Münzen fielen
aus Gold und Silber
und Baumwollsamen und Sesam.
In einem solchen Haus kann einem nichts und niemand etwas anhaben, und wenn das doch geschieht, wenn Unglück, Krankheit und Tod in ein solches Haus einziehen, dann hat auch das für den, der in einem solchen Hause wohnt, nur akzidentelle Bedeutung.
Aber: „σήμερα“ (heute – Z. 7) wohnt niemand mehr in einem solchen Haus. Das ist die bittere Wahrheit, der sich die Dichterin und der ihr folgende Leser stellen muss – an einem banalen Freitagmorgen, vielleicht in der Küche einer ebenso banalen Etagenwohnung, ebenso wie „heute“ keine trauernde Witwe mehr in einen Eisvogel und keine verzweifelte Mutter mehr in eine Nachtigall verwandelt wird.
Wenn Niki Marangou in den ersten Zeilen ihres Gedichts das Zitat aus (Pseudo)Lukians Dialog aufgreift, dann tut sie das nicht in der Absicht, den Abstand von heute zu damals zu verringern, sondern um ihn im Gegenteil erst richtig deutlich zu machen. Denn der gleiche Satz hat „heute“ nicht die gleiche Bedeutung wie vor
2000 Jahren. Wenn wir sagen, „wir können heutzutage nicht mehr so leicht mit
Gewissheit sprechen, weder über Eisvögel noch über Nachtigallen“, dann heißt das: Anders als der (pseudo)lukianische Sokrates haben wir heute nicht mehr die Option, auf Grund unserer Unwissenheit auch Unwahrscheinliches für möglich zu halten.
Unser modernes Konzept von Wirklichkeit lässt das nicht zu – und deshalb erleben wir es auch nicht und sehen im Eisvogel nur den Eisvogel.
Um Lucians/Sokrates’ Satz so nachsprechen zu können, wie er seinerzeit noch gemeint war – indem wir also unsere Unwissenheit als Argument für die Möglichkeit des Unwahrscheinlichen einsetzen – müssten wir alles vergessen, was seitdem an Wissen30 auf uns gekommen ist. Dieses Wissen ist gespeichert in unseren Bibliotheken und Datenbanken, es ist jederzeit ausleihbar und von jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort abrufbar. Es hat sich über Generationen in unseren Köpfen eingenistet und ist nun einfach „da“, ganz gleich, ob wir es nutzen wollen oder nicht.31 Aber einfach dadurch, dass es „da“ ist, und dass andere es nutzen, entsteht eine Art Sogwirkung, der man sich auf Dauer nicht entziehen kann. Dabei mag auch die Sorge, sonst ins Abseits zu geraten, eine Rolle spielen. Dass wir dieses Wissen nicht ignorieren können, hat aber vor allem mit uns selbst zu tun, nämlich mit unserem Streben nach Konsistenz unserer Gefühle und Gedanken, unseres Glaubens und unseres Wissens, unserer Erfahrungen und unseres Handelns, kurz: unseres Lebens – also nach intellektueller Redlichkeit.32 Dies gilt selbstverständlich auch für die Religion und ihre Agenten.
Und so sind aus Häusern, auf deren Grundstein eines Hahnes Opferblut floss, einfach nur Häuser aus Stein, Eisen und Holz geworden. Betten mit ehemals vier Kreuzen an den vier Ecken sind einfach nur Gestelle aus Holz, Metall und Stoff. Gold und Silber sind einfach nur Geld. Lazarus ist tot. Die Nacht ist die Nacht und bleibt dunkel. Statt Kerzen benutzen wir Energiesparlampen. Weizen und Roggen werden bei Monsanto gerade neu erfunden. Mehl, Fenchel und Honig kaufen wir im Supermarkt. Und unsere Mythen sind nur mehr erfundene Geschichten, die zuerst von Philologen analysiert, dann von Theologen entmythologisiert und am Ende
„unschädlich“ entsorgt werden, meist zwischen zwei Buchdeckeln.
Und da sitzt sie nun, und schreibt an einem Freitagmorgen einen Brief an Dionysos und vielleicht ahnt sie beim Schreiben nur, dass dieser Wochentag kein normaler Wochentag ist, sondern der Tag, der an den Tod des christlichen Gottes erinnert. Oder aber sie weiß es nur zu gut. Und vielleicht ist das der Grund, warum sie ihren Brief mit ihrer nicht ausgesprochenen, aber immer präsenten Sehnsucht nach Gewissheit und nach Erlösung nicht an diesen am Kreuz gestorbenen und wieder auferstandenen christlichen Gott richtet, sondern an den „heidnischen“ Gott Dionysos, der aber vielleicht von allen Göttern seinem christlichen Pendant der Ähnlichste ist – sich aber doch in einem Punkte fundamental von ihm unterscheidet: Nie hat er eine Theologie gebraucht. Und das hat ihn davor bewahrt, zu einem Opfer
30 Mit „Wissen“ sind hier nicht in erster Linie irgendwelche konkreten Ergebnisse gemeint, obwohl auch solche konkreten Ergebnisse dammbrechende Wirkung haben können („Die Erde dreht sich um die Sonne“ usw.), sondern die Methoden und die dahinter stehende Denkweise, die zu diesen Ergebnissen führen.
31 Paradigmatisch dafür ist immer noch Bultmanns berühmte Formulierung: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und
klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen
Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ (Rudolf Bultmann, Neues Testament und
Mythologie, 1941, S. 18)
32 Ernst Tuendhat, Retraktionen zur intellektuellen Redlichkeit, in: Ders., Anthropologie statt
Metaphysik, München 2010, 85-113. Aktuelle soziologische Untersuchungen zeigen allerdings, dass gerade im Bereich der Religion kognitive Inkonsistenz mehr oder weniger die Regel ist.
dieser Theologie zu werden und so durch sie dahin zu schwinden. Es gibt keine
„Dionysologie“ und wir brauchen auch keine, um Dionysos zu verstehen. Die griechischen Götter mitsamt ihren Geschichten (μύθοι = Mythen) sind nämlich einfach nur da:
„Die griechischen Götter sprechen nicht von sich selbst. … Kein Dogma sagt im Namen dieser Götter aus, wofür sie zu halten sind, wie sie sich zum Menschen stellen und was er ihnen schuldig sei. Kein heiliges Buch verzeichnet, was man unbedingt wissen oder glauben müsse. Ein jeder mag nach eigener Weise über die Götter denken, wenn er
ihnen nur die Ehrenerweisung nach altem Brauche nicht vorenthält.“33
Der christliche Gott erleidet aber mittlerweile das gleiche Schicksal, das sich schon bei jener moralischen Interpretation der alten Mythen andeutete, die wir bei Lukian kennen gelernt hatten: Dass er nämlich hinter einem Wust von Interpretationen oder philosophischen Spekulationen zu verschwinden droht, weil sich alle diese Interpretationen und Spekulationen de facto aus fremden Quellen speisen und deshalb vollständig aus sich selbst verständlich sind, so dass man gar nicht mehr auf den Gedanken kommt, der Gottesgedanke, nein: der Gott selbst in seinem eigenen Sein könnte noch einen Mehrwert bereit halten, der über Moral und Existenz hinausgeht, und könnte einer Sachlogik folgen, die nicht die Sachlogik der Philologie, Philosophie, Soziologie, Ökonomie und auch nicht die der Pädagogik ist.
Und deshalb richtet sie ihren Brief und ihre Sehnsucht nach Erlösung nicht an diesen schwindenden und entschwindenden christlichen Gott, sondern an jenen Gott, der in seiner machtvollen Dynamik für all das zu stehen scheint, dessen Verlust sie in ihrem Brief so eindrucksvoll beklagt, und der dem christlichen Gott doch auch wieder so nahe ist wie kein anderer Gott:
„Dionysos bedeutet die Welt des reinen Wunders, die überquellende Üppigkeit alles Wachstums, die Zaubermacht der Weinrebe, die die Menschenseele selbst zum Wunder macht und dem Unendlichen vermählt … Dionysos ist der Herr der Lebenden und der Toten … Sein Fest, in der Zeit der Wintersonnenwende, ist der Tag, an dem Odysseus heimkehrt, den Meisterschuss tut und die Freier erlegt, beides unter Apollons Beistand. Und in den Wintertagen, zur Zeit der Neugeburt des himmlischen Lichtes, führen die Mänaden auf dem Parnass ihre Tänze auf und finden das
neugeborene Dionysosknäblein in der Wiege.“34
Ebenso wie in den ersten, wird auch in den letzten Zeilen des „Briefes“ Dionysis/Dionysos direkt angesprochen:
Und so, Dionysis, […]
will ich dir beim Kaffeetrinken am Freitagmorgen
lediglich sagen
dass du mir ungemein gefehlt hast.35
Ob dies in der Hoffnung geschieht, eine Antwort auf den „Brief“ zu erhalten? Dann würde seine letzte Zeile die Dringlichkeit einer solchen Antwort noch einmal unterstreichen. Oder ob es sich eher um ein abschließendes Statement handelt?36
Danach steht man auf, stellt die Kaffeetasse in die Geschirrspülmaschine und
33 Walter F.Otto, Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, 3. Aufl. Frankfurt 1993, S. 24
34 Ebd. S. 112ff
35
πὼς σὲ πεθύμησα πολύ = (wörtl.) dass ich dich sehr vermisst habe (Aorist) – vgl. Anm. 8
36 Grammatisch ist beides möglich.
wendet sich anderen Dingen zu, ebenso wie diese Interpretation dann auf ihrer
Wanderung durch das Gedicht die letzte Strecke des Weges angehen könnte.
Indes: Das wäre vielleicht doch etwas zu vorschnell. Denn der „Brief an Dionysis“ steht keineswegs so isoliert in der „lyrischen Landschaft“, wie man es zunächst vermuten könnte, sondern hat einen prominenten Vorgänger, allerdings keinen Brief, sondern ein Gedicht, aber das ist der „Brief an Dionysis“ genau genommen ja auch. Es handelt sich um Friedrich Hölderlins Elegie „Brot und Wein“37.
Dass es in diesem Gedicht nicht nur um Christus geht, wie der die Erinnerung an das christliche Abendmahl evozierende Titel nahe zu legen scheint, sondern mindestens ebenso sehr auch um Dionysos, springt sofort in die Augen. Diejenigen Prädikate, mit denen Hölderlin Christus belegt, lassen sich mühelos auch auf Dionysos übertragen. Sieht man genauer hin, dann stellt man weiter eine überraschende Ähnlichkeit zwischen beiden Gedichten fest, nicht im Detail, aber sowohl in der Programmatik als auch in der Struktur.
Aber wo sind sie? wo blühn die Bekannten, die Kronen des Festes?
Thebe welkt und Athen; rauschen die Waffen nicht mehr
In Olympia, nicht die goldnen Wagen des Kampfspiels, Und bekränzen sich denn nimmer die Schiffe Korinths?
Warum schweigen auch sie, die alten heilgen Theater?
Warum freuet sich denn nicht der geweihete Tanz?
Warum zeichnet, wie sonst, die Stirne des Mannes ein Gott nicht, Drückt den Stempel, wie sonst, nicht dem Getroffenen auf?
Oder er kam auch selbst und nahm des Menschen Gestalt an
Und vollendet und schloß tröstend das himmlische Fest.
Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter
Aber über dem Haupt droben in anderer Welt. Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten,
Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.
Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen, Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch,
Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsal
Hilft, wie Schlummer und stark machet die Not und die Nacht, Bis daß Helden genug in der ehernen Wiege gewachsen,
Herzen an Kraft, wie sonst, ähnlich den Himmlischen sind. Donnernd kommen sie drauf. Indessen dünket mir öfters
Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein, So zu harren und was zu tun indes und zu sagen,
Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?
Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,
Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht. (Strophe 6 u. 7)38
Der Verlust, der hier zwar in einem hohen Ton mit dem Anspruch allgemeiner Gültigkeit beklagt wird, unterscheidet sich sachlich aber kaum von dem, was im „Brief an Dionysis“ in einem begrenzteren Rahmen in den Zeilen 10 – 25 in leuchtenden Bildern geschildert wird, durch das zweimal vorangestellte „δὲν“ (= nicht) aber sogleich in die Vergangenheit verbannt wird, während für die Gegenwart gilt: „Du fehlst mir ungemein!“ Oder in Hölderlins Worten:
37 Verfasst 1800/1801, aber bis auf die erste Strophe erst lange nach Hölderlins 1806/07 einsetzender geistiger Umnachtung veröffentlicht.
38 Hölderlin, Werke und Briefe, hg. von Fr. Beißner u. Jochen Schmidt, Bd. 1, Frankfurt 1969, S. 114-
119
Indessen dünket mir öfters
Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein, So zu harren und was zu tun indes und zu sagen,
Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? (Strophe 7)
Der Literaturwissenschaftler Manfred Frank hat herausgearbeitet, worin Hölderlin und seine spätromantischen Zeitgenossen das Defizit ihrer Gegenwart gesehen haben, das sie – wie es in „Brot und Wein“ heißt, von der „erkrankten Erde“ und der
„gefangenen Seele“ (Strophe 9) sprechen ließ: Während in der Antike, das, was wir als „Identität“ bezeichnen, sich noch „in ganz und gar Fleisch gewordenen Himmelsmächten“ manifestieren konnte, habe in der Gegenwart (wir befinden uns am Anfang des 19. Jahrhunderts) „die Magersucht des modernen, wissenschaftlichen Geistes dieselbe Identität in die fleischlose Innerlichkeit der Reflexion verschoben.“39
Bei dieser negativen Diagnose bleibt das von Hölderlin in Gedichtform gefasste geschichtsphilosophische Konzept der Spätromantiker aber nicht stehen. Anders als im „Brief an Dionysis“ ist die Feststellung „dass du mir ungemein fehlst“, noch nicht das letzte Wort.
„Nämlich, als vor einiger Zeit, uns dünket sie lange, Aufwärts stiegen sie all, welche das Leben beglückt,
Als der Vater gewandt sein Angesicht von den Menschen, Und das Trauern mit Recht über der Erde begann,
Als erschienen zuletzt ein stiller Genius, himmlisch
Tröstend, welcher des Tags Ende verkündet’ und schwand, Ließ zum Zeichen, daß einst er da gewesen und wieder
Käme, der himmlische Chor einige Gaben zurück,
Derer menschlich, wie sonst, wir uns zu freuen vermöchten, Denn zur Freude mit Geist, wurde das Größre zu groß
Unter den Menschen und noch, noch fehlen die Starken zu höchsten
Freuden, aber es lebt stille noch einiger Dank. (Strophe 8)
Obwohl die Götter entschwunden sind, sind wir dennoch nicht völlig allein und nur auf uns selbst gestellt. Hölderlin spricht von „einigen Gaben“, die zurück gelassen worden sind, und nennt davon ausdrücklich:
Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet,
Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins. (Strophe 8
Also „Brot“ und „Wein“. Der Kontext, in dem diese beiden Verse stehen, zeigt aber, das damit keineswegs nur Brot und Wein und auch nicht einfach nur das christliche Abendmahl gemeint ist, sondern mehr – was allerdings von Hölderlin auch wieder nur in poetischer Form mitgeteilt wird:
Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst
Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit,
Darum singen sie auch mit Ernst die Sänger den Weingott
Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob.“ (Strophe 8)
Um was es sich bei diesen Gaben, die gewissermaßen die Zeit des abwesenden Gottes, also die Gegenwart, überleben helfen sollen, handeln könnte, wäre noch zu klären. Wir kommen darauf zurück (VIII. „Einige Gaben …“).
39 Manfred Frank, Der kommende Gott, Frankfurt/M. 2003, S. 249f
Aber auch dabei belässt es Hölderlin ebenso wenig, wie Antike und Christentum schon das letzte Wort gewesen sind, sondern neu gedeutet werden müssen und können. „Der kommende Gott“ (Strophe 3), gedacht als Synthese zwischen Dionysos und Christus, wird Antike und Christentum vollenden und die Abstraktionen und Interpretationen der Gegenwart wieder mit der wirklichen Welt versöhnen. „Die romantische Mythologie webt also […] noch immer an dem nie abgeschlossenen Text, der die griechische Antike mit der jüdisch-christlichen Mythologie verbindet.“40
Ja! sie sagen mit Recht, er söhne den Tag mit der Nacht aus
Führe des Himmels Gestirn ewig hinunter, hinauf, Allzeit froh, wie das Laub der immergrünenden Fichte,
Das er liebt und der Kranz, den er von Efeu gewählt, Weil er bleibet indes die erkrankte Erde der Gott hält
Langsamdonnernd und Lust unter das Finstere bringt. Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt,
Siehe! wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists! Wunderbar und genau ists als an Menschen erfüllet,
Glaube, wer es geprüft! aber so vieles geschieht
Keines wirket, denn wir sind herzlos, Schatten, bis unser
Vater Äther erkannt jeden und allen gehört.
Mit allen Himmlischen kommt als Fackelschwinger des Höchsten
Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab.
Selige Weise sehns; ein Lächeln aus der gefangnen
Seele leuchtet, dem Licht tauet ihr Auge noch auf. Sanfter träumet und schläft in Armen der Erde der Titan,
Selbst der neidische, selbst Cerberus trinket und schläft. (Strophe 9)
Wie wir Nachgeborenen wissen, ist auch dieser Traum vom „kommenden Gott“ und überhaupt einer „neuen Mythologie“ ein romantischer Traum geblieben. Im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts werden andere Projekte verfolgt, von denen einige die romantische Vision usurpieren, sie dabei aber de facto ruinieren, so dass statt „Lust unter das Finstere“ gebracht wird, die Lust in Finsternis verwandelt wird.
Dionysos/Christus ist also nicht gekommen. Die Befreiung der „gefangenen Seele“ mittels einer kräftigen Auffrischung der überkommenen und alt gewordenen Religion durch das „Dionysische“ fand nicht statt und die Religion selbst litt weiter an Auszehrung und strebte ihrer Auflösung entgegen.
Dann also doch den Kaffee austrinken, aufstehen und weggehen? Bitten wir noch einmal um etwas Geduld. Vielleicht gibt es doch noch etwas Besseres als Kaffee an einem Freitagmorgen in der Küche einer banalen Etagenwohnung.
40 Ebd. S. 299
VI.
„μέσα στὸ γενικὸ θαλάσσωμα τῆς ἀνακρίβειας τῶν αἰσθημάτων“
Vielleicht bedeutet die Formulierung „mitten in der ‚allgemeinen Verwirrung der Ungenauigkeit der Gefühle’” (Zeile 27 und 28) nur mitten in der allgemeinen Verwirrung der Ungenauigkeit der Gefühle – was zum Verständnis bereits völlig ausreichen würde angesichts der verzweigten Überlegungen, die wir bisher zum
„Brief an Dionysis“ angestellt haben, und von denen wir hoffen, dass zumindest ein
Teil von ihnen auch von der Verfasserin des Briefes geteilt wird.
Wenn das schon die ganze Wahrheit wäre, dann ist allerdings nicht einzusehen, warum diese Formulierung durch ihr besonderes Druckformat ausdrücklich als Zitat kenntlich gemacht worden ist. Deshalb lohnt es sich, diesem Zitat und seinem Stellenwert im Rahmen des „Briefes an Dionysis“ etwas genauer nachzugehen.
Anders als beim Zitat aus (Pseudo-)Lukians „Eisvogel-Dialog“ zu Anfang des Gedichts gibt es keinen Hinweis auf den Verfasser. Die deutsche Übersetzung lässt für einen Moment den Gedanken an Stefan Zweigs „Novelle „Verwirrung der Gefühle“ aufkommen. Aber diese Spur führt in die Irre. Auch die englische Übersetzung des griechischen Originals hilft zunächst nicht weiter. Tatsächlich aber handelt es sich um ein Zitat aus dem 5. Teil des Gedichtes „East Coker“ von T.S. Eliot, das in seiner griechischen Übersetzung den Weg in Niki Marangous Gedicht gefunden hat, und dann von dort aus ins Englische rückübersetzt worden ist – mit dem Ergebnis, dass es erhebliche Abweichungen zwischen dem Original und der englischen Rückübersetzung gibt.
Die Bedeutung des Zitats erschließt sich zu einem Teil bereits aus dem unmittelbaren Zusammenhang der 5. Strophe des Gedichtes von Eliot:
So here I am, in the middle way, having had twenty years — Twenty years largely wasted, the years of l’entre deux guerres Trying to use words, and every attempt
Is a wholly new start, and a different kind of failure
Because one has only learnt to get the better of words
For the thing one no longer has to say, or the way in which
One is no longer disposed to say it. And so each venture
Is a new beginning, a raid on the inarticulate With shabby equipment always deteriorating In the general mess of imprecision of feeling,
Undisciplined squads of emotion. And what there is to conquer
By strength and submission, has already been discovered
Once or twice, or several times, by men whom one cannot hope
To emulate — but there is no competition —
There is only the fight to recover what has been lost
And found and lost again and again: and now, under conditions
That seem unpropitious. But perhaps neither gain nor loss. For us, there is only the trying. The rest is not our business.41
41 Hier bin ich nun in der Mitte des Weges, nachdem ich zwanzig Jahre – Zwanzig meist vergeudete Jahre, die Jahre entre deux guerres –
Bestrebt war, den Gebrauch der Worte zu lernen, und jeder Versuch
Ist ein ganz neues Beginnen, eine andere Art von Mißlingen, Weil man erst lernte, die Worte besser zu meistern
Für Dinge, die man nicht mehr sagen muß, oder für eine Form
In der man sie nicht mehr sagen möchte. Darum ist jeder Versuch
(Fortsetzung nächste Seite!)
Ganz offensichtlich zieht hier T.S. Eliot (1888 – 1965) eine Art Zwischenbilanz seiner bisherigen – dichterischen – Versuche, „den Gebrauch der Worte zu lernen“. Die Bilanz fällt nicht positiv aus, und deshalb ist es vielleicht kein Zufall, dass Eliot nach Beendigung der „Four Quartets“ praktisch keine Lyrik mehr verfasst hat. Von
„Misslingen“ ist die Rede und davon, dass sowohl inhaltlich als auch formal alles (auch) schon von anderen gesagt ist, „denen zu gleichen ein vermessener Wunsch ist“. Und deswegen ist jeder dichterische Versuch, will man damit wirklich Neuland betreten und Neues neu sagen, immer ein Neuanfang und „ein Vorstoß in das Sprachlose“, in das bisher nicht oder nicht so Gesagte.
In diesem Zusammenhang ist nun auch vom „Durcheinander unbestimmter Gefühle“ die Rede. Man muss allerdings sehen, dass dieser dann bei Niki Marangou als Zitat auftauchende Teilsatz Glied eines längeren Satzes ist, der vollständig so lautet:
And so each venture
Is a new beginning, a raid on the inarticulate With shabby equipment always deteriorating In the general mess of imprecision of feeling, Undisciplined squads of emotion.
Darum ist jeder Versuch
Ein neuer Anfang, ein Vorstoß in das Sprachlose, Mit schlechter Ausrüstung, die sich weiter abnützt Im Durcheinander unbestimmter Gefühle, Ungezügelter Truppen des Herzens.
Dann wäre das „Durcheinander unbestimmter Gefühle“ nichts anderes, als was Eliot schon geschildert hat und was im Grunde jeden Dichter bewegen muss: Ob er mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, also mit seiner „Ausrüstung“, den „Kampf“ mit den Dingen um ihn herum und mit den eigenen Gedanken und Gefühlen, mit den Augenblicken der Erleuchtung und den Niederungen der Selbstzweifel und überhaupt den Kampf mit sich selbst, und am Ende auch den Kampf mit den Wörtern und überhaupt mit der Sprache – ob er diesen Kampf bestehen kann.
Dass Niki Marangou dieses „Durcheinander unbestimmter Gefühle“ nicht fremd sein wird, dürfen wir aus ihrer bereits zitierten autobiographischen Bemerkung entnehmen:
Der Kernpunkt meines Lebens war immer die Leidenschaft für die Sprache, für die griechische Sprache in all ihren Formen, modern, alt, byzantinisch. Ich liebe es, mit der
Ein neuer Anfang, ein Vorstoß in das Sprachlose, Mit schlechter Ausrüstung, die sich weiter abnützt Im Durcheinander unbestimmter Gefühle,
Ungezügelter Truppen des Herzens. Und was zu erobern wäre
Durch Kraft und Gehorsam, wurde bereits ein-, zweimal
Oder gar öfter entdeckt von Meistern, denen zu gleichen
Ein vermessener Wunsch ist – doch hier geht es nicht um Wettstreit – Der Kampf geht nur um das, was verloren wurde,
Wiedergefunden und immer wieder verloren: und nun unter Umständen
Die ungünstig scheinen. Doch vielleicht ist’s weder Gewinn noch Verlust. Für uns bleibt nur das Bestreben. Der Rest ist nicht unsere Sache.
Das Gedicht „East Coker“ ist 1939 verfasst worden und 1940 zum ersten Mal erschienen. Der Titel bezieht sich auf ein Dorf in Somerset/England, aus dem Eliots nach Amerika ausgewanderte
Vorfahren stammen.
Die englische und die deutsche Fassung sind entnommen aus: T.S. Eliot, Ausgewählte Gedichte. Englisch und Deutsch, Frankfurt/M. 1951, S. 110f
Sprache zu spielen. Darum habe ich einen Buchladen eröffnet; so konnte ich alle Bücher haben, die ich wollte. Darum versinke ich in Büchern, ich gehe wieder zur Universität, suche nach Wörtern, suche nach neuen Spielen. Ich gebrauche Wörter wie Farben um Bilder zu malen. Einige davon kommen von sehr weit her.
Dann würde das Zitat sich also auf jene Probleme beziehen, mit denen sich ein Dichter, wenn er denn ein Dichter sein will, immer beschäftigen muss. Und die skeptische Einfärbung, die Eliot dem gibt, hängt eher mit seiner Biographie zusammen – kurz vorher ist von „vergeudeten Jahren die Rede – als dass sie grundsätzlicher Art ist.42
Aber sind das die Probleme dessen, der/die da am Freitagmorgen in der Küche seinen/ihren Kaffee trinkt?
Vielleicht hilft ein Blick auf den Zusammenhang des Gedichtes weiter, dem das Zitat entnommen ist. Ohne zu sehr auf Einzelheiten einzugehen, kann man sagen, dass auch „East Coker“ ein Gedicht ist, in dem Verlusterfahrungen vorherrschen. Schon der erste Satz, „In meinem Anfang ist mein Ende“, gibt die Richtung vor, in der sich ein Großteil des Gedichtes bewegt. Dessen letzter Satz lautet zwar „In meinem Ende ist mein Anfang“, aber auch scheinbar positive Aussagen wie zum Beispiel die Anspielung auf den „Good Friday“, also den Karfreitag, am Ende des 4. Teils erscheinen merkwürdig gebrochen. Jetzt geht es nicht mehr nur um die Schwierigkeiten des Dichters, die angemessenen Worte für das zu finden, was er sagen will; es geht nun um die Schwierigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit, überhaupt wissen zu können, was man sagen soll:
What was to be the value of the long looked forward to, Long hoped for calm, the autumnal serenity
And the wisdom of age? Had they deceived us
Or deceived themselves, the quiet-voiced elders, Bequeathing us merely a receipt for deceit?
The serenity only a deliberate hebetude,
The wisdom only the knowledge of dead secrets
Useless in the darkness into which they peered
Or from which they turned their eyes. There is, it seems to us, At best, only a limited value
In the knowledge derived from experience.
The knowledge imposes a pattern, and falsifies, For the pattern is new in every moment
And every moment is a new and shocking
Valuation of all we have been. We are only undeceived
Of that which, deceiving, could no longer harm. (Teil 2)43
42 In dieser Bedeutung ist das Zitat dann von öfter verwendet worden, z.B. vom griechischen Literaturwissenschaftler G.P. Savidis in einem Artikel über Odysseas Elytis, als diesem 1960 der griechische Staatspreis für Dichtung verliehen wurde: Αν κάθε απόπειρα δημιουργίας είναι: … επιδρομή στο άναρθρο με αρματωσιά φτενή που αδιάκοπα ξεχαρβαλώνεται μέσα στο γενικό θαλάσσωμα της ανακρίβειας των αισθημάτων – καθώς είπε ένας από τους οξυδερκέστερους ποιητές του αιώνα μας, ο Τ. Σ. Έλιοτ – τότε, κάθε ποίημα που βγαίνει σωστό από τα χέρια του τεχνίτη του είναι μια νίκη.(Ο Ταχυδρόμος, 10.12.1960, S. 14-15) Savidis zitiert übrigens den gesamten Satz.
43 Wozu half uns denn die lange erhoffte, Lange ersehnte Ruhe, die herbstliche Klarheit,
Die Weisheit des Alters? Haben sie uns getäuscht
Oder täuschten sie sich selbst, die leise sprechenden Alten, War ihr einziges Erbteil ein Rezept für Betrug?
War die Gleichmut nur besonnene Stumpfheit, (Fortsetzung nächste Seite!)
Natürlich ist das nicht deckungsgleich mit dem, was im „Brief an Dionysis“ verhandelt wird. Aber in der Tendenz gleichen sich die beiden Gedichte insofern, als es nicht nur um das professionelle Problem eines jeden Dichters geht, die rechten Worte zu finden, sondern darüber hinaus auch darum, was man überhaupt „ mit Gewissheit“ sagen kann. Die Gründe für diese Ungewissheit sind unterschiedlich. Bei Eliot ist es eine offenbar tiefe Verunsicherung angesichts der Veränderungen um ihn und wohl auch in ihm, die alles vermeintlich Feste ins Wanken bringen. Im „Brief an Dionysis“ sind es die verschwundenen religiösen Erfahrungen, mit denen auch jede Gewissheit geschwunden ist, und die einen in der „allgemeinen Verwirrung der Ungenauigkeit der Gefühle” sprachlos zurück lässt, bis auf jenen einen Satz: „Du hast mir sehr gefehlt!“
Denn: Was kann man sagen, “wenn man in einem Hause wohnt, auf dessen Grundstein keines Hahnes Opferblut floss …“? Wie können wir dann noch von Gott sprechen? An wen richten sich unserer Gebete? An wen unsere Klagen? An wen unseren Dank? Vor wem entzünden wir unsere Kerzen? Wer schaut uns aus unseren heiligen Bildern an? Wem gilt das Schlagen des Kreuzes? Für wen sind die Blumen, mit denen wir unsere Altäre schmücken?
Die Weisheit nur Wissen um totes Geheimnis, Das nichts frommt im Dunkel, in das sie spähten, Oder von dem sie wegsahen. Uns scheint,
Im besten Fall der Wert des Wissens,
Das wir aus Erfahrung gewinnen, äußerst beschränkt. Wissen verhängt eine Ordnung und verzerrt sie,
Denn die Ordnung erneuert sich in jedem Augenblick, Und jeder Augenblick bringt eine neue und erschütternde Bewertung von allem, was wir gewesen. Wir durchschauen
Die Täuschung erst, wenn sie uns nicht mehr schadet. (East Coker, Teil 2)
VII.
„Wenn die Ethnologen kommen, verlassen die Geister die Insel“
Die Götter hatten Mitleid mit der um ihren Ehegatten trauernden Witwe Halkyone und verwandelten sie in einen Eisvogel. Man möchte gerne wissen, wie es sich als Halkyone in der Gestalt (nur in der Gestalt?) des Ἀλκυὼν lebt. Was an Halkyone und was am Eisvogel ist jeweils Substanz, was Akzidenz? Wie verhalten sich die Natur des Eisvogels und die Natur der Halkyone zueinander? Handelte es sich bei den beiden um prominentere Partner, wäre das die Ausgangsfrage für die Entwicklung einer speziellen Zwei-Naturen-Lehre.
Denn das ist – seriöser formuliert – die Kernfrage bei jeder Metamorphose: Was bleibt, was ändert sich? Oder ändert sich alles?
Als vor über 200 Jahren die Gedanken der Aufklärung auf vor allem auf die protestantische Religion und ihre Theologie übergriffen, setzte ein tiefgreifender
„Umformungsprozess“ ein, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist.44 Die zentrale hermeneutische Voraussetzung dieses Prozesses, ohne deren Anerkennung er nicht hätte stattfinden können, wird – wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang – von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf treffend so beschrieben:
Das Kleid muss neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.45
Übertragen auf die Transformation des Christentums hieße dies: Trotz aller Veränderungen im Laufe seiner inzwischen zweitausendjährigen Geschichte wäre der Inhalt, der Kern des Christentums immer derselbe geblieben. Und in dieser Perspektive haben sich christliche Re(!)former und Re(!)formatoren (wie zum Beispiel Martin Luther) mitsamt ihrer Programmatik immer als Bewahrer bzw. Wiederhersteller der ursprünglichen Wahrheit des Christentums verstanden und nie als nach vorne weisende Veränderer und Neuerer – was nicht ausschließt, sondern im Gegenteil erst die Voraussetzung dafür war, dass mit der Parole
„Wiederherstellung“ de facto immer wieder Neuland betreten wurde. Auch hier könnte man auf Martin Luther als prominentes Beispiel verweisen.
Wenn man nun auf das sieht, was im Christentum für fast 2000 Jahre gemeinsame Glaubensüberzeugung war und im Mittelpunkt des Lebens und Glaubens des einzelnen Christen stand, also auf das, was Wilamowitz-Moellendorf als „Seele“ bezeichnen würde, dann ist es der Glaube an die Erlösung der gesamten Menschheit und jedes einzelnen Menschen, wenn er denn glaubt, durch den Tod Christi am Kreuz. Weiterhin der Glaube an die real vorgestellte Auferstehung der Toten, an das Endgericht und an das ewige Leben bzw. die ewige Verdammnis – ebenfalls real und mit Anschauung gesättigt vorgestellt. Trotz gewisser Unterschiede, z.B. was den Stellenwert der Prädestinationslehre betrifft, war man sich auch darüber einig, dass
44 Emanuel Hirschg, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V, Gütersloh 1968, S. 621-
626; Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1 u. 2, Tübingen 1997; Falk Wagner, Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999; Falk Wagner, Geht die Umformungskrise des deutschsprachigen modernen Protestantismus weiter? (ZNThG, 2. Bd., Berlin
1995, S. 2125-254)
45 U.v. Wilamowitz-Moellendorf, Reden und Vorträge, Bd. I, Berlin 1925, S. 8 (zitiert bei: Hans Peter
Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt/M. 1985, S. 206)
es für einen jeden von seinem Leben und seinem Glauben vor dem Tode abhing, ob ihn nach dem Tode bzw. dem Endgericht das ewige Leben oder die ewige Verdammnis erwartete.
In diesem das gesamte Leben bestimmenden Horizont erscheint Glaubensgewissheit dann als Gewissheit, so gelebt und so geglaubt zu haben, mithin alles richtig gemacht zu haben, dass man am Ende zuversichtlich in der Hoffnung auf die Auferstehung und ein ewiges Leben sterben konnte.
Im Rahmen der damit gegebenen Logik musste eine Abweichung von der richtigen Lebensweise und stärker noch ein anderer Glaube dramatische Folgen haben, und zwar nicht nur für einen selbst, sondern auch für die anderen, die dem falschen Vorbild folgen und dadurch der ewigen Verdammnis anheim fallen könnten. Anders ist es nicht zu erklären, mit welcher Energie und erbarmungslosen Konsequenz die Kirche sog. Häresien verfolgt und immer versucht hat, die Gläubigen vor den davon nach Meinung der Kirche ausgehenden Versuchungen zu bewahren. Unter diesen Voraussetzungen waren Abgrenzung, Intoleranz und Verfolgung nicht nur normal, sondern geradezu geboten, denn es ging immer um alles oder nichts: Heil oder Verdammnis, Himmel oder Hölle. Der Kampf gegen Ketzer erschien notwendig, um die der Kirche anvertraute Herde vor Unheil zu bewahren. Natürlich hat es hier immer auch andere Motive – z.B. machtpolitische oder ökonomische – gegeben, aber es wäre sicher eine modernistische Verzeichnung, würde man das Handeln der damaligen Akteure nur darauf zurückführen und darüber das starke, wenn nicht dominierende Gewicht religiöser Motive vernachlässigen.
Das alles ändert sich grundlegend erst im 18./19. Jahrhundert. Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass sich das, worauf sich der Glaube richtet, woher er sich begründet und überhaupt das Verständnis dessen, was Religion ausmacht, von außen in das Innere des Menschen verlagert – mit dramatischen Konsequenzen etwa für den Gottesbegriff und für die Vorstellung von der Erlösung/Rechtfertigung des Menschen. Das, was bisher als eine Art auf den Menschen zentriertes kosmisches Drama vorgestellt wurde, einsetzend mit der Schöpfung (im Grunde sogar noch davor), mit dem Jüngsten Tag als innerweltlichem Höhe- und Endpunkt und zugleich „Schnittstelle“ zur nie endenden ewigen Seligkeit oder Verdammnis – all das wird nun transformiert in innerseelische Prozesse, verbunden mit einem immensen Aufwand an theologischer Gelehrsamkeit, mittels derer diese Umformung des Christentums begründet und legitimiert wird. Als deren Ergebnis wird all das, was bisher als in einem real vorgestellten transzendenten Raum mit realen Auswirkungen auf den Raum der Immanenz existierend gedacht wurde, nun zu einem diffusen „woher“ transformiert. Die dagegen gerichtete Kritik konservativer Theologen wie die bereits erwähnten Tholuck und Vilmar speist sich aus der Angst, dass durch diese Entwicklung das Christentum das verliert, was Wilamowitz- Moellendorf als „Seele“ bezeichnen würde. Wie bereits bemerkt, halte ich diese Kritik für berechtigt, zugleich aber auch für anachronistisch, weil diese Entwicklung letztlich alternativlos war.
Der – leider früh verstorbene – Theologe Falk Wagner hat das Ergebnis dieses Transformationsprozesses, so wie es sich heute abzeichnet, bündig zusammengefasst:
Es „werden die Gehalte ihrer Krise und Kritik verfallen, die sich auf die ebenso supranaturalen wie mythologischen Bereiche apart gesetzter göttlicher, trinitarischer, christologischer und ekklesiologischer Subjekt-Hypostasen beziehen. Trinitarische, christologische und ekklesiologische Vorstellungen, die zu machtvoll handelnden
Wesen oder Subjekten verselbständigt werden, sind entweder auf dem Konto eines vergangenen Weltbildes abzubuchen oder aber so umzuformen, dass sie für die Explikation des religiösen Verhältnisses von personalem Selbstsein und sozialem Anderssein, von individueller Freiheit und naturhafter und gesellschaftlicher Abhängigkeit tauglich sind. Da einzig die Individualität der Individuen das empirisch erfahrbare und theoretisch reflektierbare Subjekt der Religion bildet, sind alle anderen überempirischen oder übernatürlichen Vorstellungssubjekte, die im Laufe langer religiöser und theologischer Traditionen aufgebaut wurden, auf die Funktionen zu reduzieren, die sie für den Aufbau und die Auslegung einer religiös sich verstehenden Individualität leisten können. Alle Ansprüche, die über diesen funktionalen Umgang mit den Religionsgehalten im Interesse der Explikation religiöser Individualität hinausgehen, verlieren ihre Relevanz. Sie sind daher der vergangenen Geschichte zu überlassen. Die auf die Belange und Interessen der Individuen zugeschnittene Religion der Moderne wird also von der krisenhaften Umstellung der dogmatischen Sach- auf die lebensweltlich relevante Sozialdimension begleitet. Diese Umstellung kann im Interesse der dogmatisch-fundamentalistischen Korrektheit eines von Berufstheologen propagierten ‚Glaubens’ bekämpft werden, aber sie lässt sich auf Dauer sowenig aufhalten wie die sozial bedingten Veränderungen der modernen Religionskulturen.“46
Im Unterschied zu früheren Zeiten47 ist es um diese Problematik heute allerdings ruhiger geworden. Die Transformationsprozesse vollziehen sich weiter, erregen aber kein besonderes Aufsehen mehr, werden vielleicht gar nicht bemerkt. Möglicherweise hängt das mit der eingangs erwähnten Renaissance des lange durch Karl Barth und seine Schule diskreditieren Religionsbegriffs zusammen. Solange das, was man verwaltet, noch unter die Rubrik „Religion“ fällt, scheint sich nichts Wesentliches geändert zu haben. Ein wichtiges Signal und ein scheinbar überzeugender Beleg dafür, dass alles beim alten geblieben ist, ist die fast schon inflationäre Verwendung traditioneller Begriffe in allen möglichen Zusammenhängen: Jesus Christus, spirituell, heilig, Glaube, Liebe, Auferstehung usw., ebenso aber auch die Wiederbelebung aller möglichen religiösen Elemente in der kirchlichen Praxis.
Aber schon 1873 hatte Franz Overbeck (1837-1905) in seiner auch heute noch lesenswerten Schrift „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ die These vertreten, dass zwischen dem historischen Urchristentum und dem Christentum, wie es dann durch dessen theologische „Bearbeitung“ repräsentiert bzw. reformuliert worden ist, ein unüberwindbarer Abgrund klaffe, und zwar bereits seit den Kirchenvätern der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bis hin zur liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts, der Overbecks spezielles Interesse gilt, so dass die Kirchen, die von einer die Jahrtausende überdauernden Identität des Christentums ausgingen, „unter dem Namen des Christentums ein unwirkliches Wesen durch die Welt schleppen“. Ursächlich dafür verantwortlich zu machen seien keine außerkirchlichen Einflüsse, sondern die christliche Theologie selbst mit der ihr immanenten Sachlogik:
Theologie […] macht das Christentum als Religion problematisch, das heißt [stellt] es als solche überhaupt in Frage […], da auch eine apologetische Theologie, wenn von ihr das Christentum wissenschaftlich bewiesen wäre, es als Religion vernichtet hätte.
46 Falk Wagner, Metamorphosen des Protestantismus, 1999, S. 185f
47 Rudolf Bultmanns 1941 veröffentlichter Vortrag „Neues Testament und Mythologie“ löste nach dem
Zweiten Weltkrieg heftigste kontroverse Diskussionen aus; ebenso das Buch des englischen Bischofs
John A.T. Robinson „Honest to God“ („Gott ist anders“), München 1963.
Die Haitianer haben für diesen Sachverhalt ein einprägsames Sprichwort: „Wenn die Ethnologen kommen, verlassen die Geister die Insel.“48 Denn sie – die Ethnologen – unterwerfen die Religion einer fremden Sachlogik ebenso wie es die moderne Theologie tut – und auch gar nicht anders kann. Nach dieser Sachlogik existieren Götter oder Geister nicht für sich, sondern immer nur als – wie und unter welchen Umständen auch immer hervorgebrachte – menschliche Konstrukte, die funktional zu interpretieren sind.
Um nicht in Konflikt mit diesem von ihr ja auch selbst vertretenen Konzept zu kommen,49 rechtfertigt die moderne Theologie diesen funktionalen Ansatz mit dem unhintergehbaren Unterschied zwischen „Offenbarungsgrund“ und
„Offenbarungsausdruck“, mit dem Ergebnis, dass praktisch alle religiösen
Manifestationen als „vorletzte menschliche Ausdrucksformen“ zur Disposition stehen
– einschließlich dessen, was man traditionell als „Heilige Schriften“ bezeichnet hat – während der „Offenbarungsgrund“ sich zu einem theoretischen Konstrukt verflüchtigt. Und genau das bedeutet das Ende des Christentums, und nicht nur des Christentums, als Religion. Denn zu einem theoretischen Konstrukt kann man nicht beten. Es ist taub gegenüber unseren Bitten und unserem Dank. Man kann ihm keine Opfer darbringen und keine Altäre mit Blumen schmücken. Für ein theoretisches Konstrukt kann man keine Kreuze an die vier Ecken des Bettes nähen, und es kann Lazarus nicht aus dem Reich der Toten zurückholen.50
Nun ist es aber in einer modernen Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft so, dass im Grunde sich jeder immer auch in der Rolle des Ethnologen oder auch des Theologen befindet oder doch zumindest befinden könnte, wenn er nur das zur Verfügung stehende Wissen heranzöge und sich der auf Grund dieses Wissens möglichen Selbstreflexion nicht verweigerte. Würde er sich all dem aber stellen, dann ist jener bereits erwähnte Preis (S. 8) zu zahlen, der nach Hans Peter Duerr von jedem Ethnologen (und, so fügen wir jetzt hinzu, auch von jedem Theologen) – also von einem jedem von uns – zu entrichten ist, nämlich „für immer ausgeschlossen zu
bleiben aus der selbstverständlichen Welt der redenden Tiere“.51
Was kann man sagen, “wenn man in einem Hause wohnt, auf dessen Grundstein keines Hahnes Opferblut floss …“? Wie können wir dann noch von Gott sprechen? An wen richten sich unserer Gebete? An wen unsere Klagen? An wen unseren Dank? Vor wem entzünden wir unsere Kerzen? Wer schaut uns aus unseren heiligen Bildern an? Wem gilt das Schlagen des Kreuzes? Für wen sind die Blumen, mit denen wir unsere Altäre schmücken? Über die Antwort auf diese am Ende des vorhergehenden Kapitels (S. 27) gestellten Fragen kann es nun keinen Zweifel mehr geben: In einer Religion, die keine mehr ist, weil sie ihre Seele verloren hat, begegnen wir immer nur uns selbst. Wir sind es, an die wir unsere Gebete richten.
48 Zitiert bei: Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt/M. 1985, S. 204
49 Trutz Rendtorff, Gott – ein Wort unserer Sprache? – Ein theologischer Essay, München 1973
50 Ernst Tugendhat macht gegenüber den Versuchen, diesem theoretischen Konstrukt mittels einer
Erweiterung bzw. Aufweichung des Existenzbegriffs Leben einzuhauchen, m.E. zu Recht darauf aufmerksam, „dass wenn man sich Gott nicht mehr als im Himmel (oder auf dem Olymp usw.) denken kann wie in früheren Zeiten, der Existenzbegriff seinen Sinn verliert. Dass ein konkretes (reales) Wesen existiert – und ein oder der Gott, zu dem man beten kann, ist ein konkretes (reales) Einzelwesen (man changiere nicht von einer Bedeutung in eine andere!) –, heißt, dass es in Raum und Zeit existiert.“ (Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2010, S. 112).
51 Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt/M. 1985, S. 216
Für uns sind die Blumen, mit denen wir unsere Altäre schmücken. Und wir selbst sind es, die uns aus unseren heiligen Bildern anblicken.
VIII. „Einige Gaben …“
„Über religiöse Erfahrungen zu sprechen ist heute nur mehr im Modus des Verlustes und der Trauer über diesen Verlust möglich.“ (S. 7)
Indem wir Niki Marangous Gedicht „Brief an Dionysis“ gleichsam Schritt für Schritt abgegangen sind, haben wir uns die Gründe für diesen – irreversiblen – Verlust religiöser Erfahrungen und Erfahrungsmöglichkeiten ebenso vor Augen geführt wie die bis heute andauernden, letztlich erfolglosen Anstrengungen, sich mit dieser Irreversibilität nicht abzufinden.
Obgleich das spätromantische, in die Vision vom „kommenden Gott“ mündende Projekt einer Revitalisierung des dahin schwindenden Christentums durch eine Amalgamierung paganer antiker Elemente auch zu diesen gescheiterten Bemühungen zu rechnen ist, ist es durch sein Scheitern doch nicht völlig entwertet. Die etwa von Hölderlin für die Zeit bis zur Epiphanie des „kommenden Gottes“, also für unsere Gegenwart, in poetischer Form entworfene Interimslösung enthält Anregungen, in welche Richtung Überlegungen gehen könnten, soviel wie möglich aus der Erbmasse der untergegangenen Religion zu bewahren oder sich wieder neu anzueignen – wenn es denn wert ist, bewahrt und angeeignet zu werden.
Wir folgen dem Hinweis, den Hölderlin in der 8. Strophe von „Brot und Wein“ gibt:
[…]
Ließ zum Zeichen, dass einst er da gewesen und wieder
Käme, der himmlische Chor einige Gaben zurück,
Derer menschlich, wie sonst, wir uns zu freuen vermöchten, Denn zur Freude mit Geist, wurde das Größre zu groß
Unter den Menschen und noch, noch fehlen die Starken zu höchsten
Freuden, aber es lebt stille noch einiger Dank.
Für die Liturgie der Katholischen Kirche bedeutete die auf dem Zweiten
Vatikanischen Konzil 1967 verabschiedete Konstitution über die heilige Liturgie
„Sacrosanctum Concilium“ einen gewaltigen Einschnitt. Zwar wurde die bis dahin verpflichtende „Tridentinische Messe“ mit Lateinisch als Liturgiesprache nicht verboten, wie man manchmal hört, de facto aber überall abgeschafft und ersetzt durch den „Novus Ordo Missae“. Lateinisch wurde durch die jeweiligen Landessprachen ersetzt, der gregorianische Choral verschwand fast vollständig usw.
– alles mit dem Ziel, die „volle und tätige Teilnahme“ („plena et actuosa participatio“)
aller Gläubigen an der Messfeier sicher zu stellen.
Dabei hätten die „Tridentinische Messe“, der gregorianische Choral und manches andere mehr durchaus zu den Gaben gehören können, von denen Hölderlin spricht,
„derer menschlich, wie sonst, wir uns zu freuen vermöchten“. Die Unverständlichkeit des Lateinischen wäre dafür kein Hindernis gewesen, denn auch wenn die liturgischen Texte nun in den jeweiligen Landessprachen vorgetragen werden, werden sie dadurch nicht verständlicher, denn die Unverständlichkeit liegt nicht an der Sprache, sondern an der Sache.
Es geht aber um etwas ganz anderes: Die lateinische Messe, der gregorianische Choral, die Kirche „Hagia Sophia“ in Konstantinopel/Istanbul, Rubljows Ikone der Dreifaltigkeit, Paul Gerhards Kirchenlieder, Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium, Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp, Marc Chagalls Fenster im Fraumünster in Zürich, ebenso wie die Süleyman-Moschee in Istanbul, ebenso wie die überwältigend schönen Götterstatuen in den Museen Griechenlands, ebenso wie die buddhistischen Tempel in Bhutan, ebenso wie … – all das ragt – gerade auch
in seiner völligen oder partiellen Unverständlichkeit – in eine Welt, die von sich und der in ihr waltenden Rationalität glaubt, die einzig mögliche zu sein. Es sind gleichsam Spuren des „ganz Anderen“, das die Religion in der Transzendenz v erortete, und das nun für immer dahin ist. Seine „Abdrücke“ aber erinnern uns – neben oder auch zusammen mit aller ästhetischen Anmutung, die von großen Kunstwerken auch ausgeht – daran, dass diese Welt und wie wir sie organisiert haben, nicht der letzte Maßstab ist, ebenso wie es auch eine andere, möglicherweise sogar bessere, nicht sein kann.
Beschränken wir uns auf das christliche Erbe, dann haben Christen im Laufe ihrer
2000jährigen Geschichte gelernt, zu der Welt, in der sie leben, in einem Verhältnis zu stehen, dass Engagement und Distanz gleichsam dialektisch vereint, was nicht leicht ist. Ein Blick auf den neutestamentlichen Schlüsseltext für dieses spezifische Weltverständnis und –verhältnis zeigt, dass der ursprüngliche Grund dafür in der eschatologischen Perspektive der ersten Christen lag.52 Nach mehrfachem Wechsel der Begründungs- und Motivationszusammenhänge scheint es heute möglich, sich auch ohne einen traditionellen christlichen Hintergrund so zu verhalten, wie es früher nur auf Grund eines solchen Hintergrundes möglich war. Das ist eine der Gaben, von denen Hölderlin spricht – so zumindest fasse ich es auf – dass aufgrund einer spezifisch religiösen Motivation neue menschliche Denk- und Verhaltensmöglichkeiten entdeckt wurden, die mit dem Ende der Religion nun nicht etwa auch verschwinden, sondern weiter lebbar sind, weil die Kraftquellen, aus denen ein solches Verhalten möglich ist und als sinnhaft erscheint, sich gewissermaßen aus der Transzendenz in das Innere des Menschen verlagert haben.
Dazu aber, dass der Mensch nicht übermütig wird, kann eine weitere Gabe beitragen, die uns die Religion hinterlassen hat und die wir im Besonderen Luthers Rechtfertigungslehre verdanken: Seine Formel „simul iustus et peccator“53 dämpft eine zu optimistische Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten. Und auch diese ursprünglich spezifisch christlich-protestantische Entdeckung ist inzwischen zu einer
allgemein menschlichen Denk- und Handlungsoption geworden, die deswegen nicht mehr nur von Christen als sinnvoll empfunden wird, weil für viele Menschen ihr Entdeckungszusammenhang nicht mehr mit ihrem aktuellen Begründungs- zusammenhang identisch ist.
Ähnlich verhält es sich – und das sei als ein letztes Beispiel für die Gaben genannt, die uns die christliche Religion hinterlassen hat – mit zentralen ethischen Einsichten, aus denen sich eine bestimmte Lebensweise ergibt. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung sind die Grundlage der christlichen Ethik nicht die Zehn Gebote und auch nicht das Gebot der Nächstenliebe, wie wir es aus dem Alten und Neuen Testament kennen54. Hier handelt es sich nämlich im Grunde um naturrechtliche Setzungen auf der Basis des Prinzips „Gerechtigkeit“, deren Sinnhaftigkeit deshalb vergleichsweise leicht nachvollziehbar ist.
52 „Dieses aber sage ich, Brüder: Die Zeit ist gedrängt. Übrigens dass auch die, welche Weiber haben, seien, als hätten sie keine, und die Weinenden als nicht Weinende, und die sich Freuenden als sich nicht Freuende, und die Kaufenden als nicht Besitzende, und die der Welt Gebrauchenden als ihrer nicht als Eigentum Gebrauchende; denn die Gestalt dieser Welt vergeht.“ (1. Korintherbrief, Kap. 7,29-
31)
53 Dt.: zugleich gerecht(fertigt) und Sünder.
54 3. Buch Mose, Kap. 19,18; Mk 12,31
Das Christentum fügt dem das Prinzip „Liebe“ hinzu und setzt beide in ein dialektisches Verhältnis: Gerechtigkeit nicht ohne Liebe, Liebe nicht ohne Gerechtigkeit.55 Im Endeffekt heißt dies: Das christliche Erbe sind nicht die Zehn Gebote, sondern die Freiheit. Und auch hier gilt, dass der Zugang zu diesem Erbe und der damit verbundenen Lebensform heute auch Menschen möglich ist, die sich nicht ausdrücklich der christlichen Tradition verpflichtet fühlen, weil sich die Plausibilität dieser Lebensform aus anderen, neuen Begründungszusammenhängen ableitet.
Dass dies keine bloß theoretischen Überlegungen sind, zeigt sich daran, dass viele
Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen schon so leben, sich also der Gaben
„menschlich, wie sonst, [sich] zu freuen vermöchten“, ohne ein großes Aufheben darüber zu machen.56 57
Ob das auch für diejenige eine Möglichkeit wäre, die da an einem Freitagmorgen in ihrer Küche sitzt und ihren Kaffee trinkt: Statt auf eine Antwort auf ihren „Brief an Dionysis“ zu warten, die nie kommen wird, auf die Lebensmöglichkeiten zu sehen, die auch für sie bereit stehen, die sie aber noch nicht kennt? Also das, was sie jetzt noch als Verlust betrauert, als einen Gewinn zu erkennen und anzuerkennen, nämlich nicht mehr angewiesen zu sein auf die Epiphanie des Absoluten, auf
55 „Im Neuen Testament ist Gerechtigkeit die Einheit von Gericht und Vergebung. Rechtfertigung durch Gnade ist dien höchste Form göttlicher Gerechtigkeit. Das bedeutet: proportionale Gerechtigkeit ist keine Antwort auf das moralische Problem. Nicht proportionale, sondern verwandelte Gerechtigkeit hat göttlichen Charakter. Mit anderen Worten: Gerechtigkeit findet ihre Erfüllung in der Liebe.“ (Paul Tillich, Moralismen und Moral (1959), in: Paul Tillich, Auf der Grenze, Stuttgart 1962, S. 170).
56 In diesem Zusammenhang verdient die Beobachtung bzw. Feststellung Falk Wagners Beachtung, dass „mit dem ethischen Zeitalter des Christentums … der Tatbestand verbunden [ist], dass die in
ethisch-moralischer oder rechtlich-politischer Hinsicht verallgemeinerbaren Gehalte des Christentums
in hohem Maße als realisiert gelten können oder ihrer weiteren Realisierung zugeführt werden. Denn insbesondere die modernen Rechts- und Verfassungsstaaten, die sich durch die Anerkennung der Menschen und Grundrechte und durch demokratische Verfahrensweisen auszeichnen, beruhen auf Prinzipien des sozialen Selbst- und Weltumgangs, die dem praktisch-ethischen Verständnis der christlichen Religion weitgehend entsprechen. Das ist unbeschadet der Tatsache der Fall, dass diese Rechtsprinzipien gegen den Willen der großen Kirchen durchgesetzt werden mussten. Die Gehalte des Christentums, die sich jedoch nicht auf allgemeingültige Weise realisieren lassen, werden zunehmend zu einer Angelegenheit von kognitiven Minderheiten … Die Religion der Moderne lässt sich somit von der praktischen Idee der Freiheit leiten, die die Funktion einer regulativen Idee übernimmt. Damit weiß sich die so verstandene Religion dem Projekt der Moderne verpflichtet, das aus den neuzeitlichen Revolutionen wissenschaftlicher, politischer und ökonomischer Art hervorgegangen ist.“ (Falk Wagner, Metamorphosen des Protestantismus, 1999, S. 187f)
Vgl. dazu auch Trutz Rendtorff, Christentum außerhalb der Kirche, Hamburg 1969.
Inzwischen hat sich gezeigt, dass Wagners Beschreibung doch wohl zu optimistisch ausgefallen war, denn auf manchen Praxisfeldern zeigen sich deutliche Spannungen zwischen aktuellen gesellschaftlichen Trends und dem, was wir als christliches Erbe bezeichnet haben, so z.B. bei der
Frage nach der Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit menschlichen Lebens. Es muss also damit
gerechnet werden und ist auch tatsächlich immer mehr der Fall, dass es in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen zu kontroversen Debatten um das „bessere“ Konzept kommen wird, in denen dasjenige Konzept, das sich auf die „Gaben“ unseres christlichen Erbes beruft, nur eines unter mehreren miteinander konkurrierenden sein wird.
57 Um diese Lebensweise genauer zu bezeichnen, fehlt es bisher an einer geeigneten Begrifflichkeit. Bezogen auf den Islam, wo es ähnliche Phänomene gibt, findet man gelegentlich den Begriff des
„säkularen Muslim“. Der Dalai Lama spricht seit einiger Zeit von „säkularer Meditation“, um damit zu sagen, dass es möglich sei, sich die buddhistische Meditationspraxis anzueignen ohne gleichzeitige
Übernahme der damit verbundenen religiösen Anschauungen. Das Bedeutungsfeld des Begriffes
„säkular“ ist aber zu weit und zu unscharf, um das, was wir hier meinen, genau bezeichnen zu können, so dass wir weiter nach einem passenden Begriff suchen müssen.
Wunder und auf Eindeutigkeit, sondern Nicht-Eindeutigkeit und Ungewissheit zu akzeptieren – und doch so zu leben und so zu handeln, als ob es das alles noch gäbe, also
als ob es heutzutage leicht wäre
mit Gewissheit über Eisvögel oder gar
Nachtigallen zu reden
als ob man in einem Hause wohnte
auf dessen Grundstein eines Hahnes Opferblut floss und als ob man auf einem Lager schliefe
mit an seinen vier Ecken angenähten Kreuzen worauf die Münzen fielen
aus Gold und Silber
und Baumwollsamen und Sesam
und als ob man auf die Straßen strömte bis tief in die Nacht mit den anderen
zu den hellerleuchteten Häusern Lazarus voran, gehüllt in gelbe Blumen und rund um sein blütenstrotzendes Lager Kränze und Getreide,
Vögel, Schlangen, Blätter,
Mehl, Fenchel, Kerzen und Honig weicher als Schlaf.
Dann brauchte sie ihren „Brief an Dionysis“ nicht abzuschicken.
Anhang 1:
Lawrence Alma-Tadema
(1836-1912):
„Primavera“ (1894)
(Getty-Museum, Los
Angeles)
Dionysos als „göttliches Kind“ Römisches Mosaik, 4. Jhd. n.Chr. (Haus des Aion, Paphos/Zypern)
© Walter Reichel 2011